Philippe Besson: "Eine italienische Liebe"

Ein verschnittenes Dreieck mit arg schütteren Stellen


Ein Mann liegt am Ufer des Arno. Das wäre noch nichts Besonderes. Der am Ufer liegende Mann denkt, fühlt, beobachtet, beschreibt. Auch dies kein Grund für erhöhte Aufmerksamkeit. Der Mann heißt Luca Salieri, ist 29 Jahre alt - und tot. So weit, so originell.
Die Leiche wird gefunden, weggebracht, sodann obduziert, einbalsamiert, aufgebahrt und beerdigt - das übliche Prozedere nimmt seinen Lauf, beschrieben und kommentiert vom Verstorbenen.
Jeweils abwechselnd konfrontiert Philippe Besson den Leser überdies mit den Gedanken und Handlungen zweier Menschen, welche dem Toten nahestanden, die da wären: seine Verlobte, Anna Morante, und ein 22-jähriger Sexarbeiter namens Leo Bertina, der dem Text augenscheinlich eine Prise schmuddelige Verruchtheit bescheren soll.

Das ergibt also drei Ausgangspunkte, die Besson mit erzähltechnisch einigermaßen treffsicheren Linien zum Dreieck verbindet. Eine Überraschung von bescheidenen Dimensionen bahnt sich an: ein spät aufgedecktes "Dreiecksverhältnis".
Ein Dreieck ist starr, es verharrt unweigerlich in der ihm einmal zugedachten Ebene, und so ist es auch mit "Eine italienische Liebe": Weder Höhen noch Tiefen entwickeln sich; die Schablone wird nicht gesprengt.
Beginnend beim Aufgefundenwerden des toten Luca wird im weiteren Verlauf der Versuch unternommen, aus dem Erleben und den Erinnerungen dreier Personen ein Netz zu spinnen, dem es allerdings an Spannung mangelt und das daher - um beim Bild zu bleiben - größtenteils schlaff durchhängt.
Somit haben wir es mit drei selbstbeschreibenden Ichdarstellern zu tun, von denen einer immerhin nicht mehr unter den Lebenden weilt, was manchmal durchaus unterhaltsame Momente erzeugt, allein jedoch kein ausreichendes Gegengewicht für die ansonsten platten Schilderungen darstellt. 
Bisweilen kreuzen sich die Linien der Erzähler, ohne dass es zu nennenswerten Abzweigungen käme.
Der zu Lebzeiten bisexuelle Luca beschreibt seine Verwesung, sein Tod wird genau untersucht, Anna ahnt etwas, die polizeilichen Ermittlungen Inspektor Tonellos ziehen sich in die Länge, Leo liefert Szenen aus seinem Stricheralltag und grübelt über seine Beziehung mit Luca nach, Anna findet heraus, dass Leo Lucas Geliebter war, Zweifel und Fragen nisten sich ein, die bürgerliche Lackschicht zeigt Risse, Leo wird verhört, Anna sucht ihn in der Bahnhofshalle auf ...

Der verschlissene Stoff ist schlicht verarbeitet, allzuviele schüttere Stellen machen die Geschichte durchsichtig. 
Zudem "gehören" die Kapitel jeweils einem der Protagonisten, dessen Namen sie tragen, was dem Ganzen einen Anstrich von "Denkblasencomic" verleiht. Zu wenig unterscheiden sich diese Drei hinsichtlich ihrer Ausführungen. Denn obwohl man die Ereignisse unentwegt aus drei unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet und mitunter zeitversetzt serviert bekommt, wirken die einzelnen Abschnitte ernüchternd eindimensional und stilistisch keineswegs ausgefeilt. Nicht zuletzt weist die schnörkellose Sprache Anklänge an Fortsetzungsromane in Zeitschriften auf, es erfolgt ein Dauerbeschuss mit einfach gebauten Sätzen sowie Gedankenfetzen der banalen Art zu Themen wie Schuld und Sünde, Begräbnisriten, Sex, Einsamkeit, Tod, Leben, Selbstekel, Verlust. Untrennbar damit verbunden sind Überlegungen zu Moral, Scheinmoral und Doppelmoral.

Bei aller Knappheit der Ausführung: Tempo will (soll?) bis zuletzt nicht aufkommen, gleichzeitig fehlt es an ebenjener Tiefe, der man unter Umständen eine gewisse Bedächtigkeit in der Entfaltung zubilligen würde.
"Eine italienische Liebe" (wobei die Intention der Übersetzerin nicht zu Tage tritt, was genau an dieser Liebe "italienisch" wäre), bietet unterschwellig scheinbare Kritik an Zuständen und Entwicklungen, letztlich ist es das unentwegte Alltagsbanale, dem bedauerlicherweise der literarische Schliff fehlt, wofür bestimmt nicht allein die Übersetzung verantwortlich zu machen ist.
Das Ausschweifende des inneren Monologes bzw. der gedachten Zwiesprache zwischen Toten und Lebenden findet sich in Inês Pedrosas "Du fehlst mir" ungleich eleganter und zudem weniger oberflächlich abgebildet.
Fast alles in "Eine italienische Liebe" ist kurz geraten. Seien es die Namen, die Sätze, die Kapitel; und der Buchumfang (178 Seiten) lässt - zu Recht - eine schnelle Lektüre erwarten.
Die Kapitel greifen kaum ineinander, feinsäuberlich bleiben die drei Personen in ihren eigenen Erzählabschnitten "inhaftiert".

Obzwar die Hoffnung, auf gelungene Passagen zu stoßen, mit jeder Seite schwindet, blättert man weiter, und immerhin ist das Ende, welches die Umstände von Lucas Tod enthüllt, recht annehmbar. Dass dieses Buch in Frankreich positives Medienecho erschallen ließ, gehört hingegen zu den ungelösten Rätseln der Rezeptionsgeschichte.

(Felix; 12/2004)


Philippe Besson: "Eine italienische Liebe"
(Originaltitel "Un Garçon d'Italie")
Übersetzt von Caroline Vollmann.
dtv, 2004. 178 Seiten.
ISBN 3-423-24423-2.
ca. EUR 14,40. Buch bei Libri.de bestellen
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Philippe Besson, geboren am 29. Jänner 1967 in Barbezieux, lebt seit 1989 in Paris, wo er zunächst als Jurist arbeitete. 1999 begann er an seinem ersten Roman, "Zeit der Abwesenheit", zu schreiben, der Anfang 2001 in Frankreich erschien. In Folge erschienen im Herbst 2001 "Son frère" (dt. "Sein Bruder", verfilmt von Patrice Chéreau) sowie im Herbst 2002 der dritte Roman "L'arrière saison", für den er im März 2003 den Grand Prix RTL-Lire erhielt. Netzseite des Autors: http://philippebesson.free.fr/

Weitere Bücher des Autors:

"Zeit der Abwesenheit"

Sommer 1916: Stellungskrieg in den Schützengräben bei Verdun. In Paris erlebt der 16-jährige Vincent seine erste körperliche Liebe in den Armen von Arthur, dem 21-jährigen unehelichen Sohn der Haushälterin von Vincents adeliger Familie. Arthur, das heißt für ihn die Entdeckung einer verbotenen Welt voller Zartheit und Vertrauen, aber Arthur liefert ihm auch die Bilder der Grausamkeit des Todes auf den ostfranzösischen Schlachtfeldern. Und dann die ganz andere Welt: eine Begegnung in einem jener berühmten Pariser Salons mit der Lichtgestalt Marcel Proust. (Manholt)
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"Sein Bruder" (dtv)
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