Ditte und Giovanni Bandini: "Das Drachenbuch"

Lindwurm, Tatzelwurm, Naga, Ouroboros -
Archetypische Symbole, weltweite Fantasiegebilde, Repräsentanten zeitloser Urmacht?

Zwei oder vier stämmige Beine mit Krallen, Flügel, langer Schwanz, Kamm, schuppiger Körper, großer Krokodilskopf an eher langem Hals oder aber sogar mehrere Köpfe, Ohren, scharfe Zähne, feuriger Atem, schlangen- oder saurierähnliche Gestalt, scharf sehende, starr blickende Reptilienaugen ...


Nach den Igeln haben sich Ditte und Giovanni Bandini nun also den Drachen zugewendet. 
Doch was sind Drachen, wie sehen sie aus, wo treiben sie sich herum, über welche Kräfte verfügen sie? Die Antworten auf diese und viele weitere Fragen liefern die Autoren, die sowohl in den Märchen und Sagen, Mythen und Legenden unterschiedlicher Kulturkreise als auch in den Fantasy-Geschichten der Gegenwart fündig geworden sind, allerlei Interessantes zum Thema gesammelt haben, kulturhistorische Theorien kritisch hinterfragt und die gewonnenen Einsichten abwechslungsreich und unterhaltsam in diesem ansprechenden Buch zusammengefasst haben.  

Zitate aus literarischen Werken wurden ebenso eingestreut und kommentiert wie komprimierte Nacherzählungen von Heiligenlegenden, Rittergeschichten und Heldenepen; wobei die Ungeheuer nicht immer einwandfrei als Drachen identifiziert werden können. Drachen werden seit jeher mit List und Tücke oder auch durch Zauberei, Kraft des Glaubens sowie rohe Gewalt besiegt oder vertrieben. So kämpfte bereits Herakles gegen Drachen, u. a. die Hydra, Zeus selbst vernichtete den schrecklichen Typhon, Siegfrieds Bad im Drachenblut ist ebenso bekannt wie die Legende vom Heiligen Georg, der eine liebreizende Königstochter vor dem sicheren Tod errettete. Im persischen Raum kennt man Rostam als heldenhaften Drachentöter, weitere Mitstreiter in dieser Disziplin sind Bahram Gur, Kadmos, der Erbauer Thebens, Perseus und Iason, der das von einem Drachen bewachte Goldene Vlies stahl, Sigurd (aus der älteren Edda), Tristan, Beowulf, der dem grauenerregenden Grendel den Garaus machte, sowie der Papst und Heilige Silvester. Drachen tötende Frauen sind wenige bekannt, beispielsweise die Heilige Martha, die einen üblen Lindwurm in Frankreich mit zwei überkreuzten Ästen, frommen Gesängen und Weihwasser bezwang.
Die Wiener vernichteten im zwölften Jahrhundert den Lindwurm vom Kahlenberg (wenn auch auf recht unrühmliche Weise ...), auch Leviathan, dem biblischen Ungetüm, dessen Verbleib im Dunkel der Deutungen verborgen liegt, Muschchuschu, dem Nachkommen der mesopotamischen Urgöttin Tiamat, Chumbaba, dem von Gilgamesch getöteten Ungeheuer, dem hethitischen Monster Illujanka und der Midgardschlange (Jörmungand) erging es, den Geschichten zufolge, nicht viel besser. 

Weiters wird im "Drachenbuch" ausführlich auf die teils recht unterschiedlichen Charaktereigenschaften asiatischer und europäischer Drachen eingegangen: Die indischen Nagas werden vorwiegend als Hüter und Spender von Schätzen wie auch als auch Glücksbringer gesehen, der chinesische Drache (long), erkennbar an Hörnern und Schnurrbarthaaren, wird zumindest als "nicht böse" dargestellt; als Urgewalt, die außerhalb menschlichen Urteilsvermögens existiert. Chinesische Herrscher leiteten ihre Abstammung nicht selten von Drachen her, Drachenornamente zier(t)en zahlreiche Gegenstände wie auch Gewänder, und in Märchen nehmen Drachen bisweilen menschliche Gestalt an.

Ditte und Giovanni Bandini untersuchen Erklärungsmodelle zur Entstehung und Verwendung des Drachenmotivs im volkstümlichen Schrifttum, daneben natürlich auch das besondere Verhältnis der Drachen zu aparten Jungfrauen, Schätzen (Beispiel: Ladon, Wächter des Apfelbaumes im Garten der Hesperiden), zu Sturm und Regen, Kalk und Eisen, unter Beachtung der jeweilig innewohnenden spezifischen Symbolik. Die geheimnisumwobenen Kräfte von Drachenperlen, Drachenzähnen, Drachenblut - (das Baden in demselben macht unverwundbar, es unverdünnt zu trinken soll Normalsterblichen nicht wohl bekommen, jedoch vermag derjenige, der es trinkt, die Sprache der Tiere zu verstehen), von Dracheneiern, Drachensteinen und Drachenadern werden auf Basis ausführlicher Recherchen (auf den umfangreichen Quellennachweis sowie die Bibliografie im Anhang des Buches sei verwiesen) erläutert, und man erfährt, welche Bewandtnis es mit diesen wundertätigen Dingen im Detail hat. So empfahl beispielsweise die Heilige Hildegard bei bestimmten Krankheitsbildern, stark verdünntes Drachenblut zu trinken, in China waren Zubereitungen aus Drachenknochen begehrte Allheilmittel, und Drachenspeichel wurde als kostbarer Duftstoff geschätzt.

Ein eigenes Kapitel ist dem alchimistischen Drachen gewidmet. In ihrem beargwöhnten Bestreben, den Stein der Weisen zu finden, bedienten sich die Alchemisten einer überaus metaphorischen Sprache, in welcher "Drache" beispielsweise als Synonym für die prima materia, die Materie in unvollkommenem Zustand, verwendet wurde, wie überhaupt verschiedene Drachen unterschiedliche Zustände und Dinge bezeichneten; z. B. stand "der flügellose Drache" für Quecksilber. 

Sodann beschäftigen sich die Autoren mit Herkunft und Bedeutung von Drachenabbildungen in der Heraldik. Es werden Wappen und Standarten unter die Lupe genommen, beginnend bei Uther Pendragon, über die Daker, Parther, Sarmaten und Römer. Anschließend erfährt man einiges über die Drachenboote der Wikinger (Galionsfiguren!) und der Chinesen sowie über Sternendrachen (Sternbilder). Ab Seite 201 befindet man sich endgültig in der Gegenwart, wo Drachenmotive als flippige Tätowierungen in Mode sind, Internet-Märchen von der charakterlichen Metamorphose zeitgemäßer Drachen erzählen, und Schriftsteller wie Michael Ende ("Jim Knopf", "Die unendliche Geschichte"), Astrid Lindgren ("Die Brüder Löwenherz") und Franz Sklenitzka ("Drachen haben nichts zu lachen") den Imagewandel vom "bösen" zum "guten" Drachen, also die durchaus  differenziert zu betrachtende Verharmlosung, vorangetrieben haben, die niedlich-seichte Figuren wie "Tabaluga" und "Grisu" hervor gebracht hat. In der Fantasy-Literatur spielen Drachen nach wie vor eine wichtige Rolle, sei es z. B. in "Dragonheart" oder J. R. R. Tolkiens "Kleinem Hobbit" - der Drache lebt!

(K. Eckberg; 11/2002)


Ditte und Giovanni Bandini: "Das Drachenbuch"
dtv,
2002. 264 Seiten, mit Illustrationen.
ISBN 3-423-24318-X.
ca. EUR 15,-.
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