Paul Auster: "Timbuktu"
(Hörbuchausgabe)


Hörbücher sind eine wunderbare neue Quelle der heutigen Zeit. Sie sind keine Alternative zum Buch, jedoch eine Erweiterung, die andere Komponenten der Verarbeitung eines literarischen Stoffes ermöglichen. Im Falle von "Timbuktu" von Paul Auster ist diese Voraussetzung in bestechender Weise erfüllt. Die Gefahr, aus einem Buch etwas völlig Anderes zu machen, das mit der Vorlage nichts mehr zu tun hat, trifft insbesondere auf Literaturverfilmungen zu. Man denke beispielsweise an den Zweiteiler "Das Jesus-Video" nach einem Roman von Andreas Eschbach. Die fast totale Abkehr von den Grundzügen eines Buches führten zu einem mittleren Desaster. 
Bei einem Hörbuch sind die Ohren die Empfangszentrale, durch die das Schlüsselerlebnis einer Geschichte zugänglich gemacht wird. Die Augen bleiben gelassen. Konfrontation geschieht direkter. Kein Satz kann zweimal oder noch öfter nachgelesen werden, um das in ihm liegende Substrat der Erkenntnis voll und ganz verstehen zu wollen. Freilich kann am CD-Player die Rücklauftaste betätigt werden; aber es ist klar, dass dies keinen Sinn macht. Eine Geschichte teilt sich unseren Ohren mit, geht durch Mark und Bein, und lässt auch das Herz nicht aus, in dem die Seele verborgen sein mag.

Ein Hund teilt Freud und Leid mit seinem Herrchen. Mister Bones ist der Erzähler und Willy der erfolglose Dichter mit reinem Herzen. Sie ziehen gemeinsam durch die Straßen und Willy erzählt seinem Hündchen, das er Mister Bones "getauft" hat, die tollsten, erstaunlichsten Geschichten. Kein Mensch hört Willy noch zu. Er ist ein Außenseiter, dessen Nutzen für die Gesellschaft ausgeklammert wird. Aber er fühlt sich nicht nutzlos und ist es natürlich auch nicht. Die totale Vernichtung eines menschlichen Lebens ist dann möglich, wenn der Mensch nicht mehr registriert wird. Und dies geschieht mit Willy. In dieser Situation ist sein Hund der einzige Halt seines Lebens. Ohne ihn wäre das Leben eine einzige Hölle. Und so erzählt er Mister Bones Tag für Tag neue Geschichten, und sein Hund mag ihn verstehen. 

Willy ist schon längere Zeit schwer krank. Er weiß, dass sein Leben nicht mehr lange andauern kann. Doch er fürchtet sich nicht vor dem Tod. Mister Bones hört von seinem Herrchen die Geschichte von Timbuktu, wo alle hinkommen, die gestorben sind. Es ist ein wunderbarer Ort. Keine Schmerzen mehr. Nur Freude. Kein Gedanke mehr nötig an das Überleben. Ein Ort, der dort beginnt, wo das Leben aufhört. Es gibt mehr als diese Schalenexistenz, in der Willy gefangen ist. Er hat Hoffnung. Und ist sich sicher, dass Mister Bones ihn versteht. 

Willy stirbt von großen Schmerzen durchdrungen. In seinen letzten Sekunden, ehe er über den Tod nach Timbuktu gelangt, ruft er seinem Hund zu, das Weite zu suchen und sich nicht fangen zu lassen. Mister Bones tut, was ihm sein Herrchen rät. Erstmals in seinem Leben ist er auf sich allein gestellt. Er muss durch die Welt gehen, als ob es kein Gestern gegeben hätte. Dabei kann er Willy nicht vergessen. Sein Herrchen erscheint ihm im Traum, und es dauert lange, bis der Hund einen anderen Freund findet. Ein kleiner Junge füttert ihn mit Leckerbissen und versteckt Mister Bones vor dem Vater, der ein chinesisches Restaurant betreibt. Sehr schnell ist diese schöne Zeit vorbei, und Mister Bones haut ab. Er gelangt bald zu einer Familie, die ihm nur wenig Auslauf im Garten gewährt. Wenn der Familienvater als Pilot unterwegs ist, wird ihm viel Zuneigung seitens der Mutter zuteil, die jedoch an der Entscheidung ihres Mannes nichts ändern kann. Mister Bones wird eines Tages kastriert. Anfangs spürt er die Narbe kaum, doch er ist nicht mehr derselbe wie vorher. Seine Schmerzen werden immer stärker, und als er in einem Hundezwinger abgegeben wird, kann er sich kaum noch auf den Beinen halten. Er frisst nur wenig und kann dieses wenige nicht verdauen. Innerlich ist er wie ausgehöhlt. Und da denkt er an Willy und Timbuktu. Er nimmt sich ein Herz und flieht aus dem Zwinger. Er will sich nicht mehr quälen und freut sich auf Willy in Timbuktu. Dort werden sie gemeinsam spielen, und er wird nicht mehr dazu gezwungen sein, irgendeinen Ersatz für sein Herrchen zu finden. Mister Bones sieht das Licht von Timbuktu vor sich, als er eine stark befahrene Straße überquert. Bald wird er bei Willy sein.  

Das Hörbuch "Timbuktu" ist eine großartige Adaption des Romans von Paul Auster. Die besondere Qualität ist daran erkennbar, dass bemerkenswerte Schauspieler am Gelingen der tieftraurigen und umso mehr hoffnungsvollen Geschichte beteiligt sind. Willy, das Herrchen, wird von Volker Lechtenbrink gesprochen, der mit seiner rauchigen Stimme die Dramatik eines harten, glücklosen Lebens mit Freude an den kleinsten Dingen bereichert. Er hat sowohl als Sänger als auch Theaterschauspieler Erfolge verzeichnet. Seit 1962 ist er beim Fernsehen tätig und  in zahlreichen Fernsehserien zu Gast. Mister Bones, der keineswegs vermenschlichte Hund, wird von Lars Rudolph mit einer Stimme ausgestattet, die das Schicksal des Vierbeiners berührend erzählt. Als Schauspieler und ausgebildeter Jazzmusiker hat er eine Menge zu bieten. Den Film "Lola rennt", in dem er eine der wichtigsten Nebenrollen spielt, hat er mit seinem markanten Aussehen und seiner angenehmen Stimme bereichert. Auch die Nebenrollen in "Timbuktu" sind hervorragend besetzt. Als ein Beispiel  sei an dieser Stelle Andrea Sawatzki erwähnt, die in Filmen wie "Bandits", "Das Experiment" und "Das Leben ist eine Baustelle" mitwirkte und den "Tatort"-Fans bestens bekannt sein wird. 

"Timbuktu" ist nicht nur gestressten Selten-Lesern, sondern ebenso eifrigen Lesern zu empfehlen, die Interesse an einer Geschichte haben, welche das Leben der Beteiligten in eine eigene Umlaufbahn dreht.

(Jürgen Heimlich; 12/2002)


Paul Auster: "Timbuktu"
Gebundene Ausgabe:
Rowohlt, 1999.
192 Seiten. 
ISBN 3-4980-0053-5.
ca. EUR 18,-.
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Taschenbuch:
Rowohlt, 2000. 189 Seiten.
ISBN 3499228823.
ca. EUR 7,50.
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Hörspiel:
Der Audio Verlag, 2002. 
ca. EUR 14,95.
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Lien:
Interview von Paul Auster über "Timbuktu" in englischer Sprache