Paul Auster: "Nacht des Orakels"

"Als er mit dem Lunch fertig war, wusste er, was er zu tun hatte. Sein Leben konnte zufällig durch einen herabstürzenden Balken enden: genauso zufällig würde er sein Leben ändern, indem er einfach davonging."

(Aus "Nacht des Orakels")


Es gibt Bücher, die einfach nur hinreißend sind. Bücher, die eine unglaubliche Magie ausstrahlen. Die berühmte Szene aus "Lulu on the Bridge" (Regie und Drehbuch: Paul Auster) mit dem wundersamen Stein, der das Leben zweier einander bislang kaum bekannter Menschen verändert, und sie schließlich zum Paar werden lässt, lässt sich auf solche Bücher übertragen. Der Leser nimmt das Buch in die Hand und wird von diesem Buch verwandelt und bezaubert. Er befindet sich in einem anderen Universum, wenn er in diesem Buch liest. Nie kommt das Gefühl auf, es handle sich um eine Fiktion, die das Leben zu beschreiben oder sublimieren sucht. Nein, hier ist das Leben vollkommen enthalten. Hier tun sich Schluchten auf, in die der Leser hineinfallen kann. Er kann sich trauen, unbekanntes Territorium zu betreten.

Die Faszination dieses zu rezensierenden Werkes von Paul Auster lässt sich gar nicht hinreichend beschreiben. Eigentlich entzieht sich dieser Roman einer Wertung. Er lädt den Leser ein, immer wieder Neues zu entdecken. Dieses Buch versickert nicht irgendwo im Gehirn, sondern breitet sich aus. Die verschlungenen Pfade, welche sich ergeben, sind nicht auflösbar und werden doch letztlich in einen Kontext gesetzt, der wiederum Beginn eines Rätsels sein könnte.

Alles in diesem Buch ist rätselhaft. Nichts steht einfach so da. Paul Auster ist ein Zauberer. Jeder einzelne Satz ist wohlüberlegt. Und nichts ist voraussehbar. Auf knapp 300 Seiten schafft Auster etwas, von dem eine Vielzahl angeblich "erfolgreicher" Autoren höchstens träumen können: Er fertigt ein Kunstwerk. Ein Roman kann ein Kunstwerk sein, in dem jede Kleinigkeit Teil eines ungeheuren Mosaiks ist, das sowohl für sich betrachtet als auch in einem Kontext gesehen außerordentliche Turbulenzen im Kopf des Betrachtes auslöst.

Erst vor kurzem führte ich ein Gespräch, in dem es um die Bewertbarkeit von Literatur ging. Mein Gesprächspartner sprach davon, sich aus dieser Illusion von Kriterienkonstruktion ausschalten zu wollen. Es sei schlicht und einfach nicht machbar, über ein Buch einen Richterspruch abzugeben. Und ich fügte später gedanklich hinzu: Insbesondere dann, wenn es einem ungeheuer wertvoll und inspirierend erscheint. Paul Auster hat in "Nacht des Orakels" ein Thema eingebaut, das genau diese Dramatik umkreist, ohne irgendein Urteil vom Leser erwarten zu wollen. Der Schriftsteller, so lässt er einen der Protagonisten sagen, ist eine gescheiterte Existenz; er entzieht sich somit den realen Bewertungsstrukturen von Lebensabläufen. Und doch gibt es Schriftsteller, die das Leben dadurch schlüssig machen, indem sie es in Frage stellen. Paul Auster hat dem Zufall zu einer Meisterschaft verholfen, die kaum noch zu steigern ist. Er geht weit über das hinaus, was das Leben an Material zu bieten hat. Und in "Nacht des Orakels" tut er etwas, das fast schon grotesk, und deswegen absolut faszinierend ist: Er lässt den Leser teilhaben am Schaffensprozess eines Autors. 
Die Hauptfigur ist ein Schriftsteller, der nur knapp dem Tode entronnen ist, und irgendwann magisch von einem blauen Notizbuch in einen Schreibbann gerissen wird. Sidney Orr skizziert eine Szenerie, die in einen Roman ausarten könnte. Was dabei entsteht, und am Ende in einer Sackgasse verläuft, ist literarisch hochwertiger als unzählige Romane, auf die unzählige Leser hereinfallen, weil sie scheinbar eine heile oder nur dramatisierte Welterklärungsstrategie beschreiben. Es ist buchstäblich spürbar, wie Sidney Orr in dieses Notizbuch schreibt und eine Geschichte erzählt, die sich bald in seine höchstpersönliche Geschichte verwandeln wird, in der wiederum andere Geschichten aufgespürt werden können. Die Komplexität ergibt sich daraus, dass der Autor eine Geschichte erzählt, in der wiederum eine Geschichte erzählt wird, in der wiederum ein Roman eine Rolle spielt, der sich "Nacht des Orakels" nennt. Das Herumspringen in Zeitkontinuitäten, in Wirklichkeitsebenen, in fiktionalen Skizzenbeschreibungen, in ausufernden Dialogen, in Handlungsspielräumen jenseits von Zeit und Raum, ergibt summa summarum einen Roman, der tatsächlich unmöglich in ein Bewertungsschema einbezogen werden will. Die Metaebenen, in der irgendwo auch der Autor Paul Auster höchstpersönlich erscheint, sind so kunstvoll ineinander verwoben, dass es ein Drama wäre, halbherzig die Quintessenz dieser Geschichten herausfiltern, und somit zu einem "Urteil" kommen zu wollen.

Deswegen möchte ich nur drei der unzähligen Dimensionen dieses Werkes illustrieren, indem ich darüber nachdenke und diese Gedanken in den Raum werfe, wo sich zukünftige Leser, andere Rezensenten, Zaungäste und eingefleischte Fans des Autors Paul Auster treffen mögen, um der "Nacht des Orakels" eine erste - wenn auch nur indirekte - Aufwartung zu machen.

Gedankenschleife Nummer eins
Die Arbeit des Autors an sich hat für den Leser meist nur eine geringe Bedeutung. Es ist nicht wichtig, wie der Autor einen Roman konzipiert, erweitert, und schließlich kunstfertig abschließt. Paul Auster weiht den Leser ein, indem er ihn in das "blaue Notizbuch" blicken lässt und die Kämpfe demonstriert, die einen gewillten Autor auch zum Scheitern bringen können. Sidney Orr misslingt im Laufe einer turbulenten Woche so ziemlich alles. Er schreibt knapp vierzig Seiten über das Scheitern seines Hauptprotagonisten, der sich in einem Raum eingeschlossen hat, aus dem er aus eigener Kraft nicht wieder fliehen kann. Er schreibt ein Remake der "Zeitmaschine" als Drehbuch-Treatment, mit dem Hollywood nichts anfangen kann, weil es zu "intellektuell" sein mag. Und sein Leben entgleitet ihm, weil nichts so ist, wie es scheint. Das "blaue Notizbuch" wird zu einem Gradmesser seines Lebens, in dem sich Schaffenskraft bündelt, die doch meist nur ein kleiner Teil des Universums "Leben" ist, auf dem Sidney nicht länger bauen kann, weil es keine Erklärungen gibt. Ein winziger Zufall im Leben kann dieses in eine völlig andere, ungeahnte Richtung bringen. Eine kaum merkbare Nuance dazu führen, dass nichts mehr so ist, wie es noch vor Sekunden war. So geht es Sidney, so geht es seinem Helden im skizzierten Roman, so geht es letztlich uns allen, die wir als Menschen diesen Planeten Erde bevölkern. Ein Mensch, der scheinbar alles HAT, und plötzlich entdeckt, dass er nichts IST, muss sein Leben von einem Moment zum anderen in die Schranken weisen. Es gibt das Leben vor der Illusion und das Leben nach der Illusion.

Paul Auster lässt den Autor Sidney Orr in das "blaue Notizbuch" schreiben. Und zwar im Jahre 1982, als es noch kein Internet, keine E-Mail, nicht mal Fax gab. Sidney Orr schreibt mit der Hand. Er verfängt sich nicht im Dickicht eines weißen Bildschirms, der mit Buchstaben und Zeichen gefüllt wird. Wir Leser können da nur staunen. Kafka ohne Handschrift. Goethe ohne Handschrift. Die vielen glänzenden Autoren der Vergangenheit ohne Handschrift. Was wäre das für ein Humbug! Die Handschrift sagt so viel über einen Menschen aus; sie ist eine Art Code, dessen er sich bedient, um in eine besondere Beziehung zur Außenwelt zu treten. Sie ist nicht demaskierend; vermag aber viel über den Schaffensprozess und die Eigenheiten als Mensch (und Autor) auszusagen. Und Sidney Orr schreibt wie wahnsinnig in sein Notizbuch. Er befindet sich in einem anderen "Schreibuniversum", in einer Zeit, wo noch andere Gesetze herrschten.

Gedankenschleife Nummer zwei
Paul Auster hat als Drehbuchautor und auch Regisseur aufhorchen lassen. "Smoke" und "Blue in the Face" sind zwei ausgezeichnete Filme, auf die er sich eingelassen hat. "Lulu on the Bridge" ist ähnlich geheimnisvoll wie "Nacht des Orakels". Er lässt viel einfließen, was in der Vergangenheit passiert ist. "Nacht des Orakels" wäre ein Buch, das herrlich zu verfilmen ist. Und dennoch nicht verfilmt werden kann, weil es eben kein Drehbuch ist und viel zu viele Ebenen und Metaebenen in sich einschließt. Sein Treatment der "Zeitmaschine" ist wohl gut genug, um damit jeden Film aus Hollywood an die Wand zu spielen, auch wenn dabei kein "Oscar" rausschauen mag. Bewusst schreibe ich kein Wort darüber, was es mit diesem Treatment auf sich hat. Das muss der Leser für sich selbst erkennen und darüber reflektieren, wenn er sich für "Nacht des Orakels" entscheidet. Einen Gedanken muss ich jedoch in diesem Zusammenhang erörtern. Welche Wertigkeit hat Vergangenheit, und welchen hat die Zukunft im Leben des Menschen? Auster kritisiert in Person seiner Romanfigur "Die Zeitmaschine", weil in dieser kleinen Erzählung die Zukunft viel mehr Gewicht hat als die Vergangenheit.

In die Zukunft reisen zu können oder aber in die Vergangenheit; für welche Möglichkeit würden sich die meisten Menschen entscheiden? Für den Autor und auch den Rezensenten ist die Antwort sehr leicht: Für die Vergangenheit. Das ist so eine Art Gegenpol zum Titel "Nacht des Orakels", der freilich mit dieser Frage spielt. In die Zukunft reisen zu können, und den noch nicht Geborenen zu begegnen ... oder aber in die Vergangenheit zurückzukehren und Menschen zu begegnen, die für das eigene Leben so wichtig und wegweisend waren? "Zurück in die Zukunft", insbesondere der erste Teil der Trilogie, ist ein so glänzender Film, weil er den Helden in die Vergangenheit reisen und Anteil daran nehmen lässt, wie die Vorbedingungen seines Lebens waren. Eine wichtige Nebenfigur in "Nacht des Orakels" wird von der Vergangenheit buchstäblich überrollt und davon mitgerissen. Vergangenheit ist keine Spekulation, sondern eine gewesene Form des Lebens, die nur als Erinnerung in Gehirn und Seele existiert oder aber - weitläufiger und objektiv betrachtet - im Normalfall nur imaginiert werden kann. Und doch ungemein schnell lebendig werden kann, wenn sie die Gegenwart durchdringt. Es ist kein sentimentaler Gestus, der sich hier offenbart, sondern eine Erkenntnis von der Bedeutung des eigenen Lebens, das in einem Kontext von Beziehungsgeflechten aufgehoben sein kann, und jederzeit durch Schicksalsschläge in ein anderes Kontinuum verbracht, und neu geordnet werden mag.

Gedankenschleife Nummer drei
Alles, was in Büchern passiert, ist möglich. Geschichten, die geschrieben werden, könnten so passieren oder sind sogar so passiert. Kaum, nachdem sich Sidney Orr entschlossen hat, das "blaue Notizbuch" zu zerreißen und somit die aussichtslose Situation seines Haupthelden in einen Mistkübel beordert, verändern sich die Umstände um ihn herum. Nichts ist mehr so, wie es kurz zuvor noch war. Und Sidney erinnert sich an eine Geschichte, die sich einst ereignet hat: Ein Autor schrieb ein Poem darüber, wie ein Kind in einem See ertrinkt. Einige Jahre später ertrinkt sein eigenes Kind (fünf Jahre alt) in einem See. Der Autor glaubt, Schuld daran zu haben, dass sein Kind ertrunken ist. Er hat das Unglück heraufbeschworen. Wörter können töten, ist seine Überzeugung. Er wird nie wieder eine Zeile schreiben. Der einst gefeierte und mit Preisen überhäufte Autor zieht sich völlig zurück und mag irgendwo unbeachtet sein Leben fortführen, ohne auch nur einen Gedanken an eine Geschichte zu verschwenden. Diese furchtbare Geschichte steht nicht für sich allein da, sondern ergibt im Kontext vieler anderer Geschichten die verhängnisvolle Struktur, in die das Leben der Menschen eingeordnet bzw.  ungeordnet ist. Ein väterlicher Freund von Sidney ist die geheimnisvolle Figur im Roman, welche als einzige zu decodieren versucht wird. Es spricht für Paul Austers schriftstellerische Meisterschaft, dass er diese Decodierung durch eine Biografie geschehen lässt, wodurch vieles klar wird oder aber in eine neue Dimension gezogen, an der sich die tiefgründigere Erkenntnis über das Wesen eines Menschen ansatzweise begründen lässt.

Es ist damit einiges geschrieben über die Dimensionen, die sich durch den Roman erschließen. Und gleichzeitig ist dies nicht mehr als ein kleiner Ansatz, in die ungeheure Welt eines Autors einzugehen und dessen magischen Roman zu beschreiben zu versuchen.

Tatsache ist, dass ich diesen Roman nicht bewerten will und nicht bewerten kann. Er sprengt sämtliche Grenzen der Bewertbarkeit. Im Grunde genommen gilt es nur den imaginären Hut zu ziehen vor einem Autor, der mit "Nacht des Orakels" ein lebendiges, spannendes, philosophisches und schlicht und einfach magisches Werk geschaffen hat, in dem keine Zeile überflüssig ist. Dank sei auch dem Übersetzer, der dem deutschsprachigen Publikum die Welt des Paul Auster nahe bringt. Wer das Werk des Paul Auster kennt und sich tief in den Strudel der Ereignisse und Eigenheiten hineinziehen lässt, wird mit etwas belohnt, das sich nur auf wenige Autoren übertragen lässt: Er wird zum Teil des Universums des Autors.

(Jürgen Heimlich; 03/2004)


Paul Auster: "Nacht des Orakels"
(Originaltitel "Oracle Night")
Deutsch von Werner Schmitz.
Rowohlt, 2004. 272 Seiten.
ISBN 3-498-00064-0.
ca. EUR 19,90. Buch bestellen
Hörbuch:
Der Audio-Verlag, 2004. 5 Audio-CDs; Laufzeit 390 Minuten.
Gelesen von Jan Josef Liefers.
ca. EUR 27,95.
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