Pierre Vidal-Naquet: "Atlantis"

Geschichte eines Traums


Glaubenssache Atlantis - Demontage eines Mythos

"The continent of Atlantis was an island which lay before the great flood / in the area we now call the Atlantic Ocean / So great an area of land, that from her western shores / those beautiful sailors journeyed to the South and the North americas with ease" - so stellt uns Donovan in seinem herzerwärmenden Folksong das ach so sehr versunkene Weltreich vor. Platon (um 355) platziert es in seinem "Timaios"-Dialog vor das Nildelta (mit Auswucherungen bis Gibraltar) und lässt es durch ein gewaltiges Seebeben untergehen. Deutlich wird darauf verwiesen, dass Kritias der Ältere diese Geschichte von Solon ("unter allen Dichtern der edelste") kenne, der sie wiederum von einem Priester der ägyptischen Stadt Saïs habe. Im "Kritias"-Dialog wird ausgesagt, Atlantis sei größer als Libyen und Asien zusammen gewesen. Als die (antiken griechischen) Götter die Erde unter sich aufgeteilt hätten, sei dem Poseidon die Insel Atlantis zugefallen. Der erste von ihm eingesetzte König habe Atlas geheißen und das umgebende Meer habe man das altlantische genannt. Kritias beschrieb auch recht detailliert, wie die Menschen auf Atlantis lebten und wie ihr Staat organisiert war. Da die Bewohner im Verlaufe der Generationen immer dekadenter geworden seien (das Göttliche verloren hätten), habe Zeus den Untergang bereits 9.000 vor unserer Zeitrechnung beschlossen.

Der Mythos Atlantis beschäftigt die Menschen seit ca. 2.500 Jahren - doch kein Geograf konnte es je verlässlich lokalisieren. Wie auch! Beschrieb doch Platon lediglich eine Staatsutopie, indem er Athen mit Atlantis verglich. Platons Dialoge sind nämlich in Fortsetzung zu seiner "Politeia" verfasst mit dem Zweck, einen (vergänglichen) Idealstaat quasi lebendig zu beschreiben. Diese Atlantis-Erzählung erhebt keineswegs den Anspruch auf historische Wahrheit, sondern soll als philosophische Wesenswahrheit verstanden werden. Bei genauerer Betrachtung setzte Platon sein Atlantis wie ein Mosaik aus verschiedenen Vorbildern zusammen, wobei das Perserreich das Grundmuster abgab.

Das vorliegende Buch rekonstruiert die "Geschichte eines Traums" (so der von Annette Lallemand falsch übersetzte Untertitel "Petite histoire d'un mythe platonicien"). Man hat jahrhundertelang Platons subtile Ironie geflissentlich übersehen, wodurch der Atlantis-Mythos zu einer Art Ersatzreligion wurde, die v.a. auch in Kreisen von westlichen Reinkarnationsgläubigen floriert. Dabei diente Atlantis für Platon nur als Allegorie, als warnendes Gegenmodell zu einem früheren idealen Athen, welches sich zu seiner Zeit in ein imperialistisches, dem Untergang geweihtes Gebilde verwandelt hatte. Vidal-Naquet versucht mit seinem Buch der Mythenbildung contra zu geben und die jeweiligen dahintersteckenden ideologischen Interessen aufzudecken.

Wichtig ist ein für allemal zu begreifen, dass Platon eine Fiktion entwarf, die im Sinne einer Lehrdichtung politischen Einfluss nehmen wollte, indem sie das Menetekel des drohenden Untergangs skizzierte. Vidal-Naquet verfolgt nun Aufzeichnungen durch die Jahrhunderte hindurch. Während in der Antike die platonische Utopie gelegentlich parodiert wurde, kümmerte sich das Mittelalter kaum darum, bis die Renaissance sie wieder entdeckte. Verschiedene frühneuzeitliche Autoren fühlten sich zu utopischen Werken inspiriert, wie etwa Thomas Morus mit "Utopia" (1516) oder Francis Bacon mit "Nova Atlantis" (1624).

Im Laufe des 16. bis 18. Jahrhunderts wird Atlantis von diversen Gelehrten geografisch unterschiedlich zugeordnet (von Rudbeck nach Schweden, von Bailly gar nach Sibirien) - und das mit den wahnwitzigsten Begründungen. Eigenartigerweise nahm die Zahl der Lokalisierungshypothesen im 19. Jahrhundert eher noch zu. Neben seriösen, positivistisch orientierten Forschern griffen vermehrt Autoren den Stoff auf - so besucht z.B. in Jules Vernes "20.000 Meilen unter dem Meer" Kapitän Nemo die Ruinen von Atlantis am Meeresgrund. Dass sich im 20. Jahrhundert auch Walt Disney und die Esoterik dieser Thematik angenommen haben, muss sogar als unzulässige Trivialisierung der politischen Motivation Platons beklagt werden.

In Deutschland hatte bereits 1912 etwa Gerhart Hauptmann mit seinem Roman "Atlantis" Gesellschaftskritik versucht. Gefährlich peinlich wurden etliche ideologisch braun eingefärbte Machwerke wie etwa bereits 1922 von Karl Georg Zschaetsch "Atlantis die Urheimat der Arier". Bereits 1930 hatte Hitlers späterer Chefideologe Alfred Rosenberg in seinem Buch "Der Mythos des 20. Jahrhunderts" die Atlanter zu Vorfahren der Germanen erklärt und auch Galiläi und somit auch Jesus atlantisch umdefiniert. Ein pseudowissenschaftliches Werk war 1934 von Professor Albert Hermann "Unsere Ahnen und Atlantis". Und ein gewisser Jürgen Spanuth erklärt noch in den 1950er, 60er und 70er Jahren in mehreren Büchern (u.a. "Atlantis, Heimat, Reich und Schicksal der Germanen") Helgoland (= Heiligland) zur Hauptstadt von Atlantis.

Was ist nun, was muss nun das Fazit sein? Unser Autor hat fleißig recherchiert und kombiniert, und er rät uns zur rationalen Einschätzung. Das Buch bringt zur älteren Quellenlage einige wertvolle Ergänzungen, ansonsten werden hier die Standards der Atlantis-Skeptiker referiert - was ja offensichtlich notwendig ist, um uns künftig vor jeglicher verblendeten Interpretation oder gar bewussten Verfälschung der pädagogischen Platon-Allegorie zu bewahren. Nicht Geografen, Geologen, Historiker oder Archäologen sind hier gefragt, sondern Philosophen, Schriftgelehrte und Politikwissenschaftler.

Folgende Anmerkung aus dem Schlusskapitel kann zur letztendlichen intellektuellen Konsolidierung beitragen: "Diese Geschichte eines Mythos (...) gehört in den Bereich, den derselbe Platon und nach ihm Aristoteles in seiner 'Poetik' die Nachahmung, die Mimesis genannt hat. Mögen alle (...) nun den Mythos wieder der Malerei und der Dichtkunst überlassen." Insofern gehört dieses Buch auf die große Auftragsliste Aufklärung - lasset uns Mythen als Fiktion genießen und Fakten als Ironie der Geschichte akzeptieren.

Und ein Wort zur Güte: Merkt man eigentlich nicht, wie lächerlich man sich bei dieser Queste nach dem Idealreich macht?! Genausogut könnte man nach der "Insel Felsenburg" (J. G. Schnabel) oder der "Juweleninsel" (Karl May) oder der "Schatzinsel" (R. L. Stevenson) fahnden! Ist es nicht im Grunde so, dass Platon uns voranschritt wie ein Faust - und viele ihn missinterpretieren wie ein Famulus Wagner?! Und wie Faust spät nachts händeringend versucht, diesen Engstirnler loszuwerden - denn zur Einsicht ist er nicht zu bringen: "Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen / Wenn es nicht aus der Seele dringt" (Faust) - "Zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht / und wir's dann zuletzt so herrlich weit gebracht" (Wagner) - "Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit / sind uns ein Buch mit sieben Siegeln / Was ihr den Geist der Zeiten heißt / das ist im Grund der Herren eigner Geist / in dem die Zeiten sich bespiegeln" (Faust).

(KS; 04/2006)


Pierre Vidal-Naquet: "Atlantis"
Aus dem Französischen von Annette Lallemand.
C.H. Beck, 2006. 188 Seiten.
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Pierre Vidal-Naquet, geboren am 23. Juli 1930, gestorben im Juli 2006, gehörte zu den Altmeistern der französischen Geschichtsschreibung. Er lehrte an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris. Zahlreiche Werke zur griechischen und römischen Antike und zur modernen Politik- und Sozialgeschichte.