William Noel, Reviel Netz: "Der Kodex des Archimedes"

Das berühmteste Palimpsest der Welt wird entschlüsselt


1998 wurde ein kleiner, verrotteter Gebetband aus dem Mittelalter bei "Christie's" versteigert. Die Auktion ging durch die Presse, denn zu dem Zeitpunkt war bereits bekannt, dass die Pergamentseiten des Gebetbands ursprünglich mit einem anderen Text beschriftet waren, von dem noch immer Spuren zu erkennen waren: Schriften des Archimedes. Da alle überlieferten Werke des Archimedes auf Kopien der ursprünglich angefertigten Texte basieren, ist jede Kopie, die zu einem so frühen Zeitpunkt entstand, eine Chance, die bekannten Schriften auf Übertragungsfehler zu prüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. Sensationell wurde die Versteigerung, als sich herausstellte, dass "der Kodex des Archimedes", wie das Büchlein bald genannt wurde, noch unbekannte Texte von Archimedes enthielt. Als er 212 v. Chr. auf Sizilien starb, hätte er sich wohl nicht träumen lassen, welche Begeisterung seine Schriften selbst mehr als 2000 Jahre später immer noch auslösten.

Das Buch von Reviel Netz und William Noel beginnt mit der Schilderung, wie Noel, Handschriftenkurator am "Walters Art Museum" in Baltimore,  von dem erfolgreichen, anonymen Bieter für das Werk damit beauftragt wird, aus dem Gebetband die Schriften des Archimedes zu isolieren und aufzubereiten. Noel beschreibt den Prozess der Entzifferung einschließlich der angewandten Techniken, der Rückschläge und Erfolge. Seine Kapitel lösen sich mit denen von Reviel Netz ab, der Professor für antike Schriften an der Stanford University ist und sich mit dem Text des Palimpsests selbst beschäftigt, indem er den Leser an die Hand nimmt, um mit ihm in die mathematische Welt des Archimedes einzutauchen und die Beweisführung zu erläutern.

Beide Autoren erfüllen die ihnen gesetzte Aufgabe, wenn auch naturgemäß mit mehr oder weniger Erfolg für den Leser. Noels Kapitel sind leicht zugänglich, denn bei ihm geht es um Probleme des Alltags: Geldsorgen, zerfallene Seiten, nicht ausreichende Bildauflösungstechniken, Zeitmangel. Man bangt und hofft mit ihm und freut sich über Erfolge. Netz hingegen fordert den Leser, mitzudenken. Seine mathematischen Analysen benötigen ein gewisses mathematisches Verständnis und ausreichend Zeit zur Erschließung, ansonsten bleiben die von ihm verfassten Kapitel unverständlich. Dafür ist der Gewinn wiederum ein sehr viel größerer, denn nur wer die Mathematik versteht, kann nachvollziehen, warum das Palimpsest eine solche Aufregung ausgelöst hat.

Der von den Autoren gewählte Ansatz ist im Grunde ideal, denn nur die duale Perspektive ermöglicht es, den Kodex des Archimedes in die Wissenschaftsgeschichte richtig einzuordnen. Wer sich mehr für einen der beiden Aspekte interessiert, kann die anderen Kapitel überblättern. Tatsächlich ist das Buch gelegentlich etwas langatmig, da es den Autoren schwer fällt, den Spannungsbogen über ca. 300 Seiten zu halten. Wer jedoch mit Neugier und etwas Nachsicht herangeht - immerhin handelt es sich bei den Autoren nicht um Schriftsteller im eigentlichen Sinne, sondern um Wissenschaftler - , wird durch die gewonnenen Erkenntnisse reich belohnt.

Neben dem Staunen über die schon damals anspruchsvolle Mathematik gibt es einen Aspekt, der noch erwähnenswert ist: Während der Kodex zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem recht guten Zustand war, verrottete er später auf dem Dachboden in einer Pariser Wohnung und wurde von Fälschern mit mittelalterlich aussehenden Zeichnungen verschandelt, obwohl er bereits als die einzige Quelle für verschiedene Abhandlungen von Archimedes erkannt worden war. Noel und Netz prangern durch die Schilderung der Geschichte des Kodex den gewissen- und gedankenlosen Umgang mit den Schätzen der Menschheit an; hätten die damaligen Eigentümer nur einen kleinen Funken mehr Verständnis und Sorgfalt aufgewandt, wären manche Teile des Kodex nicht unwiederbringlich verlorengegangen.

(Daniel Stengel; 12/2007)


William Noel, Reviel Netz: "Der Kodex des Archimedes.
Das berühmteste Palimpsest der Welt wird entschlüsselt"

Gebundene Ausgabe:
C.H. Beck, 2007. 303 Seiten. Mit 67 Abbildungen und einer Karte.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2010.
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Leseprobe:

WAS IST DER KODEX DES ARCHIMEDES?

Niketas Choniates, der Bruder des Metropoliten von Athen, wurde Zeuge der größten Katastrophe, die jemals über die Gelehrtenwelt hereinbrach. Im April des Jahres 1204 plünderten christliche Soldaten Konstantinopel, damals die reichste Stadt Europas. Ihr ursprüngliches Ziel war die Befreiung Jerusalems gewesen, doch dann hatten sie ihre Absichten geändert und dieses Blutbad angerichtet, von dem Niketas als Augenzeuge berichtet. Der kostbare Schatz der Hagia Sophia wurde zerschlagen und unter den Soldaten verteilt.

Die ausgeraubte Stadt besaß mehr Bücher als Einwohner. In den 874 Jahren seit ihrer Gründung im Jahre 330 n. Chr. durch Konstantin den Großen, Kaiser von Rom, war es das erste Mal, dass Konstantinopel geplündert wurde. Seine Bewohner empfanden sich immer noch als Römer, und die Stadt betrachtete die literarischen Schätze der alten Welt als ihr Erbe. Unter diesen Schätzen befanden sich die Abhandlungen des größten Mathematikers der Antike und eines der größten Denker, die jemals gelebt haben. Er hatte eine erstaunliche Näherung für die Zahl π gefunden, auf ihn geht die Theorie des Schwerpunkts zurück, und er hatte - 1800 Jahre vor Newton und Leibniz - erste Ansätze einer Infinitesimalrechnung entwickelt. Sein Name war Archimedes. Im Gegensatz zu vielen Tausenden von Büchern, die bei der Plünderung der Stadt zerstört wurden, haben drei Bücher mit Texten von Archimedes überlebt.

Als Erstes verschwand von diesen drei Büchern der sogenannte Kodex B. Im Jahr 1311 wird er zum letzten Mal im Zusammenhang mit der päpstlichen Bibliothek in Viterbo  nördlich von Rom, erwähnt. Als Nächstes verschwand Kodex A. Sein letzter bekannter Aufenthaltsort war die Bibliothek eines italienischen Humanisten im Jahr 1564. Die Meister der Renaissance, wie Leonardo da Vinci und Galileo Galilei, kannten die Arbeiten von Archimedes aus Kopien dieser beiden Bücher. Doch weder da Vinci noch Galilei, Newton oder Leibniz hatten auch nur eine Ahnung von dem dritten Buch. Es umfasste zwei außergewöhnliche Texte von Archimedes, die nicht in den Kodizes A und B enthalten waren. Im Vergleich zu diesen Texten erscheint die Mathematik von Leonardo da Vinci wie ein Puzzle für Kinder. Achthundert Jahre nach der Plünderung Konstantinopels ist dieses dritte Buch, der Kodex des Archimedes, im Fachjargon auch als Kodex C bekannt, plötzlich aufgetaucht.

Das ist die wahre und erstaunliche Geschichte dieses Buches und seiner Texte. Sie erzählt, wie diese Texte die Jahrhunderte überlebt haben, wie sie entdeckt wurden, wie sie wieder verschwanden und wie sie schließlich doch noch ihren Meister fanden. Es ist ebenfalls die Geschichte einer langwierigen Konservierung, neuester Technologien und hingebungsvoller Forschung, mit deren Hilfe die verblassten und zerstörten Texte wieder ans Licht gebracht wurden. Als die Mitglieder des Forscherteams, das sich mit dem Buch beschäftigte, im Jahre 1999 ihre Arbeit aufnahmen, hatten sie keine Vorstellung von dem, was sie ans Tageslicht bringen würden. Am Ende hatten sie bisher unbekannte Texte des Altertums entdeckt und die Geschichte der Wissenschaften verändert. (...)

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