Aharon Appelfeld: "Bis der Tag anbricht"


Ein Roman als Spiegelbild der untergehenden jüdischen Kultur Mitteleuropas

Blanka, eine junge Frau aus einer österreichischen Kleinstadt, ist seit Wochen mit ihrem Söhnchen Otto auf der Flucht. Sie weiß, dass sie ihrem Schicksal nicht entrinnen kann: Das von ihr in schierer Verzweiflung gewählte Mittel, aus ihrer von Demütigung, Ausbeutung und Misshandlung geprägten Ehe zu entrinnen, wird sie dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts geltenden Recht gemäß das Leben kosten.
Erschöpft lässt sie sich schließlich irgendwo auf dem Lande nieder und schreibt nachts als Erinnerung und Rechtfertigung für ihren Sohn die Geschichte ihres missglückten Lebens auf. Als hochbegabte Tochter eines geschäftsuntüchtigen jüdischen Händlers geboren, droht sie am Jahre währenden Tuberkulosetod ihrer Mutter zu zerbrechen. Überhastet heiratet sie einen früheren Klassenkameraden, dessen Stärke ihr imponiert. Da der Glaube ihr wenig bedeutet, konvertiert sie vor der Heirat zum Christentum. Aber ihr Mann, ein ebenso leidenschaftlicher wie dumpfgeistiger Antisemit, hasst alles von ihm als "jüdisch" Identifizierte an ihr.
Gestärkt von seiner Familie, missbraucht er Blanka in jeder Hinsicht. Das ändert sich auch nicht, als Otto zur Welt kommt. Blanka findet in ihrem Kind eine Stütze, doch langfristig muss sie es vor dem Vater schützen. Und es gibt nur eine - sehr drastische - Möglichkeit, sich von ihm zu befreien.
Blanka gibt sich einen Sommer lang der Zweisamkeit mit ihrem Sohn und der Erinnerung hin. Doch die sich zuziehende Schlinge um ihren Hals wird immer deutlicher spürbar. Blanka verweilt lange genug, um Vorsorge für ihr Kind zu treffen, dann setzt sie ihre Flucht vor dem Unausweichlichen fort, nur noch gestützt von der Weisheit ihres alten Glaubens, dem sie sich in ihrer Not wieder angenähert hat.

Das Grundmotiv dieses Romans ist nicht ganz neu, doch Aharon Appelfeld verleiht ihm einen besonderen Akzent, indem er die Parallele zwischen der erniedrigten, misshandelten Frau und dem Verfall des westeuropäischen Judentums vor rund hundert Jahren zieht. Viele Juden ließen sich damals taufen, um sich in der Gesellschaft zu etablieren. Den meisten nützte es wenig, da die christliche Mehrheit ihrer Mitbürger, repräsentiert durch Blankas Ehemann mit dem sicher nicht zufällig gewählten Namen Adolf, sie nach wie vor als Juden und somit schwächliche, lebensuntüchtige Schmarotzer ansah - und ihnen ihre aufgrund ihrer Bildung erworbenen Erfolge neidete.
Aharon Appelfeld versteht es meisterlich, anhand einfacher Mittel einen tiefen Eindruck zu schaffen. Mit schlichter, betont sachlicher Sprache und ausdrucksvollen Dialogen erzeugt er eine zunehmend düstere Atmosphäre, während beide Handlungsstränge, der in der Gegenwart spielende und der sich in Form von Blankas Aufzeichnungen aus der Vergangenheit nähernde, dem unvermeidlichen Verhängnis entgegenstreben. Die Charaktere, sehr authentisch, vielleicht bewusst einen Hauch manieriert gezeichnet, in ihrer Einsamkeit und Fremdheit voreinander gefangen, verstricken sich in Schuld und können weder sich selbst noch einander entrinnen.
Zwischen ihnen allen steht das Kind, möglicher Hoffnungsträger für eine neue Zeit, in der die jüdische Lehre und ihre Anhänger Teil der Gesellschaft werden könnten; der Anfang, den Blanka versucht hat, war zum Scheitern verurteilt.
Mich als Rezensentin hat besonders die behutsame und von tiefem Einfühlungsvermögen geprägte Schilderung von Blankas immerwährendem Martyrium angerührt, dem Leid der Tochter und Ehefrau, der verantwortungsbewussten Mutter und Angehörigen einer religiösen Gemeinschaft, von der sie sich zunächst recht leichten Herzens abgewandt hatte.
Als Anklage gegen das christliche Mitteleuropa ist dieser Roman vermutlich nicht zu verstehen, sondern eher als Requiem, als Kaddisch für eine Kultur und eine Epoche, die doch eigentlich so viele große Möglichkeiten bargen. Mit der todgeweihten Blanka reisen wir dem nächsten Abschnitt des 20. Jahrhunderts entgegen, den der Autor, ein Holocaust-Überlebender, bereits am Horizont aufscheinen lässt.

(Regina Károlyi; 03/2006)


Aharon Appelfeld: "Bis der Tag anbricht"
Deutsch von Anne Birkenhauer.
Rowohlt Berlin, 2006. 255 Seiten.
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