Stefan Andres: "Die Sintflut"

Herausgegeben von John Klapper


Sozialismus des Herzens

Die ursprünglich mehr als 2000 Seiten umfassende Romantrilogie erschien erstmals in drei Einzelteilen: 'Das Tier aus der Tiefe' (1949), 'Die Arche' (1951) und 'Der graue Regenbogen' (1959). Die hier vorliegende Edition beruht auf der vom Autor selbst gekürzten sogenannten Römischen Fassung. Begonnen als allegorische Darstellung des NS-Regimes wurde dies opus magnum zur Generalabrechnung mit jeglicher Form totalitärer Herrschaft. Andres (1906-1970) galt als Vertreter der sogenannten 'Inneren Emigration', wobei er von 1937 bis 1949 in Italien lebte - weitere bekannte Werke von ihm sind 'El Greco malt den Großinquisitor' (1936) und 'Wir sind Utopia' (1942/43). John Klapper, Professor an der University of Birmingham, hat nun die auch von Andres' Frau autorisierte Fassung herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen.

Der Sintflut-Stoff ist als Metapher für die Zeitgeschichte zu verstehen: im ersten Band wird die Herrschaft des sogenannten "Normers" in einer faschistoiden Gesellschaft dargestellt, im zweiten Band werden Emigration und Widerstand problematisiert, im dritten Teil erfolgt die Auseinandersetzung mit Nachkriegs-Deutschland. Andres ist durch seine Erziehung und Ausbildung katholisch geprägt, musste dann allerdings mit seiner jüdischen Frau nach Italien auswandern. Er hatte einen Traum von einem irdischen Utopia und glaubte an die engagierte humane Tat - seine Themen waren Schuld und Gnade, Gerechtigkeit und Liebe, Freiheit, Fanatismus, Diktatur.

Das vorliegende Werk kann nun in seiner Vielschichtigkeit unter mehreren Aspekten gelesen werden: als Analyse des Totalitarismus, als kritische Bestandsaufnahme der Rolle der Katholischen Kirche im Dritten Reich, als Versuch mit biblischen Mythen analog die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu erfassen und als Reflexion über die Bedeutung der sogenannten 'Inneren Emigration'. Der 1. Band trägt hier den Titel 'Abwässer' und zeigt, wie aus dem ehemaligen katholischen Theologieprofessor Alois Moosthaler der größenwahnsinnige Diktator und Führer der NOKA-Partei wird - der Bewegung der 'Norm'. Sein Gegenspieler ist der blinde Goldschmied und Humanist Emil Clemens. Im 2. Band ist ganz Deutschland der Herrschaft der 'Norm' unterworfen - mehr oder weniger gilt das sogar für ganz Europa. Gezeigt wird dabei das vergebliche Aufbäumen oppositioneller Kräfte bzw. das Versagen humanistischer Ideen(träger). Im 3. Band ist der Normer einem Attentat zum Opfer gefallen - dennoch befinden sich die Gegner der 'Norm' in der Defensive, die restaurativen Kräfte scheinen zu dominieren.

Andres wollte vor den Gefahren moderner Diktaturen warnen und auch für die Zukunft sensibilisieren: "Denn die Geschichte von den Genormten, mag sie auch in der Vergangenheitsform geschrieben sein, enthält in jedem Satz ein drohendes Futur!" Immer wieder können die Menschen durch Massenarbeitslosigkeit und Desorientierung anfällig werden für jemanden, der ihnen die Verantwortung abnimmt. Wenn dazu noch ein psychologisch angeknackstes Militär kommt und ein Versprechen der Handlungsfreiheit für Bankiers, ist eine Diktatur kaum mehr aufzuhalten. Dies kombiniert sich noch mit einem abstrusen Gerechtigkeitsversprechen an die Kleinbürger sowie einem moralischen Vakuum in der Gesellschaft. Der Mechanismus funktioniert schließlich nach dem Prinzip: "Leicht glauben wir das, was wir heftig verlangen."

Das Problem an Andres' Romanprojekt ist die Vermengung von transzendentalen Überhöhungen mit satirischen Verzerrungen - zwei völlig konträr funktionierenden Darstellungsprinzipien. Dabei kann man Andres' Kritik durchaus bis heute fortdenken, wenn er die "Dämonie des Staates" bzw. die "Verstaatlichung des Menschen" anprangert. Andres fordert uns dazu auf, unsere Ratio zu nutzen und jegliche Entscheidung seitens des Staates oder der Kirche in Frage zu stellen. Keineswegs dürfe der Staat als "moralischer Organismus" missverstanden werden. In Andres' idealistischer Konzeption einer sozialistischen Gesellschaft geht es um die Selbstverwirklichung des Menschen, der vor der Macht des Staates beschützt werden müsse. In einem Brief von 1946 schrieb Andres, "dass wir alle, die denken und fühlen können, heute den Sozialismus in unserem Herzen und Wollen tragen, das ist, so glaube ich manchmal, eine Selbstverständlichkeit." Er wirft dem bürgerlichen Menschen vor, dass er persönliche Beziehungen dem Materialismus unterordnet und dem "Gewissensnarkotikum Pflicht" verfallen ist. Heftig kritisiert er auch die Katholische Kirche in ihrem damaligen Versagen gegenüber dem aufkommenden Faschismus.

Andres' Kritik gilt ebenso dem Missbrauch moderner Technik und Wissenschaft - er hatte sich bekanntermaßen ja auch der Anti-Atom-Bewegung und der Friedensbewegung angeschlossen. Allerdings hätte er sich entscheiden müssen, ob er einen politischen Zeitroman oder eine Allegorie schreiben wollte - es scheint sich alles zu einem Klischee totalitärer Wahnideen zu verklumpen. Gleichzeitig versuchte Andres auch seine eigene Rolle im italienischen "Exil" zu reflektieren: gibt es eine dritte Position zwischen Einmischen und Abseitsstehen?! Mit diesem Problem rang Andres ja auch bereits in seinen Novellen. So stehen seine Figuren in unterschiedlichen Varianten vor der Frage, wie man sich angesichts der Herrschaft des Bösen verhalten solle, um es vor seinem Gewissen zu verantworten - ob man "das Böse mit Bösem verhindern" könne. Andres setzt sich nicht explizit mit dem Holocaust auseinander und analysiert auch weniger die sozialen und wirtschaftlichen Grundlagen von Diktaturen.

Im Grunde kristallisiert sich diesbezüglich auch der Hauptvorwurf des Herausgebers John Klapper heraus, dass Andres den Totalitarismus als "reinigende Krankheit" versteht, die "die Menschheit auf übernatürliche Weise befällt und gegen die weder der Mensch noch die Nation viel ausrichten" könne. Andres sei eben "letzten Endes ein mythischer Dichter", den das Thema "des geistigen Widerstandes gegen das Böse" mehr interessierte als eine direkte politische Analyse. Insofern bleibt diesem Autor gegenüber ein gewisser Vorbehalt im Sinne kritisch-aufklärerischer Literatur - er gehört eben zu denjenigen, die es gut gemeint haben. Mit solcherart mythisch verbrämtem Sozialismus des Herzens lässt sich im Ernstfall ein Totalitarismus der Tat allerdings schwerlich bekämpfen.

(KS; 02/2008)


Stefan Andres: "Die Sintflut"
Wallstein Verlag, 2007. 949 Seiten.
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