Hans Biedermann: "Materia Prima"

Die geheimen Bilder der Alchemie


Einblicke in eine Welt faszinierender und verwirrender Symbolik

Mit Materia prima, einem Begriff aus der scholastischen Philosophie, hat Hans Biedermann seine Abhandlung über die geheimen Bilder der Alchemie überschrieben. Materia prima, Urmaterie, aus der die Schöpfung hervorgegangen ist, in welcher anlagemäßig bereits alles enthalten ist, was die künftige Entwicklung noch zu Tage fördern würde. In der Vieldeutigkeit alchemistischer Begriffsbestimmungen kamen der materia prima später aber auch noch andere Bedeutungen zu.

Im spätantiken Alexandrien stand die Wiege der Alchemie, einer bis heute zumeist verkannten Geistesströmung. Dass Alchemie oder Alchimie weit mehr ist, als die vorgebliche Goldmacherkunst einiger verschrobener Scharlatane, dürfte mittlerweile wohl allgemein bekannt sein. Hans Biedermann versucht, dem Leser eine Annäherung an die Denkweise der Alchimisten und deren Symbole zu ermöglichen. Das Wesen der Alchemie und ihrer Symbolik in seiner ganzen verwirrenden Vielfalt zu erschließen, kann natürlich nicht Aufgabe dieses Buches sein. Dazu ist der Text auch viel zu knapp gehalten. Biedermann gibt in seiner etwa sechzig Seiten langen Einführung, die einem umfangreicheren Tafelteil vorausgeht, einen geschichtlichen Überblick über die Alchemie, beleuchtet die Bedingungen, unter denen sie sich entwickelte und stellt ihre wichtigsten Aspekte zur Diskussion.

An der Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft und Religion siedelt Hans Biedermann die Alchemie an, alle drei sind also Bestandteile der Alchemie, wobei er der Kunst eine gewisse Vorrangstellung einräumt. Denn chymische Kunst trifft das Wesen der Alchimie besser als chymische Wissenschaft, wie Biedermann ganz richtig bemerkt, da eine seelische Disposition beim Adepten vorausgesetzt werden muss, die über den Rahmen des rein Rationalen hinausgeht. Der Alchimist ist als ein durch den Mystizismus inspirierter Künstler zu sehen. Die Alchemie war demnach eine esoterische Wissenschaft beziehungsweise Kunst, das heißt, eine Kunst für Eingeweihte und nicht für das gemeine Volk gedacht. Ich will nicht so weit gehen, zu behaupten, auch dieses vorliegende Buch sei für Eingeweihte geschrieben, aber für jemanden, der sich noch gar nicht mit der Materie befasst hat, dürfte das Buch nicht ganz einfach zu lesen sein. Es ist sicher keine Einführung für Einsteiger in dieses Thema und soll es auch nicht sein.

Auf den ersten Seiten des Einführungstextes wird die religiös-philosophische Seite der Alchimie beleuchtet, danach die metallurgisch-chemische Seite. Leider wird der geistig-philosophische Beitrag, den die Alchimie zweifellos geleistet hat, nur auf wenigen Seiten abgehandelt, da hätte ich mir mehr gewünscht, denn es gab sogar Autoren, die die Meinung vertraten, alleiniges Streben der Alchimie sei die Reinigung und Läuterung des inneren Menschen gewesen. Biedermann spricht beiden Seiten ihre Bedeutsamkeit zu, der geistigen und der chemisch-metallurgischen, wobei letztere in des Autors einführendem Text deutlich mehr Raum einnimmt als die geistig-philosophische Seite. Auch eine medizinische Seite der Alchimie gab es, und auf dem Gebiet der Heilkunst wirkt sie tatsächlich bis heute noch nach, wie Biedermann in seinem Buch darlegt. Der Geist alchimistischer Traditionen ist also nach wie vor lebendig. "Alchemie, das ist ganz allgemein gesagt: Läuterungslehre." Mit dieser Definition beendet Hans Biedermann seinen Einführungstext.

Auf den Einführungstext folgt ein Literaturverzeichnis mit neuerer Literatur zum Thema Alchemie, woran sich dann der Bildteil anschließt. Dass die Welt der Alchemie voller Allegorien und Symbole ist, wird hier im Bildteil des Buches besonders deutlich. Jedes Bild ist mit Quellenangaben zu seiner Herkunft und mit einer Interpretation versehen, die dem Leser das Verständnis des Dargestellten erleichtern soll. Man kann die durchaus beeindruckenden Bilder aber auch kommentarlos auf sich wirken lassen. Insgesamt liefert das Buch einen interessanten Einblick in eine faszinierende, aber häufig falsch verstandene Epoche menschlicher Geistesgeschichte.

(Werner Fletcher; 09/2006)


Hans Biedermann: "Materia Prima. Die geheimen Bilder der Alchemie"
Marixverlag, 2006. 218 Seiten.
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