Tschingis Aitmatow: "Du meine Pappel im roten Kopftuch"


Eine Geschichte von großen Gefühlen, verspieltem Glück und tiefer Reue sowie eine Geschichte von Verlust, wiedergefundenem Glück und aufrichtiger Liebe

Eingebettet in eine Rahmenhandlung werden zwei Geschichten erzählt, deren Protagonisten auf schicksalhafte Weise miteinander verbunden sind.

Ein Journalist trifft, als er per Anhalter von Naryn in die Redaktion nach Frunse gelangen will, auf einen mürrischen Lastwagenfahrer, der sich strikt weigert, ihn mitzunehmen, obwohl sein Kraftfahrzeug Platz genug böte. Das unhöfliche Benehmen des Mannes erscheint vorerst rätselhaft, doch dem Journalisten bleibt keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, denn der nächste Fahrer lässt ihn einsteigen.

Einige Zeit später wird der Journalist nach Südkirgisien geschickt. Wie es der Zufall will, findet er sich im selben Abteil mit jenem Mann ein, der ihn damals nicht mitgenommen hat. Die beiden kommen ins Gespräch, und "Die Geschichte des Fahrers" wird erzählt:
Iljas Alybajew, im Kinderheim aufgewachsen, arbeitet in Rybatschje, im Wagenpark für internationalen Gütertransport. Er findet großen Gefallen daran, mit dem ihm zugeteilten Wagen abenteuerliche Strecken zurückzulegen, besonders liebt er den Anblick des Issyk-Kul-Sees. Die Bergstraßen allerdings stellen immer wieder beschwerliche Etappen dar, und genau sie, im Zusammenspiel mit Iljas' unbeherrschtem Gemüt, sollen ihm eines Tages zum Verhängnis werden ...
Doch vorerst deutet nichts auf das nahende Unheil hin, denn als Iljas eine Panne hat, begegnet ihm die Liebe seines Lebens, die "Pappel im roten Kopftuch": Asselj, ein bezauberndes, fürsorgliches Mädchen. Es ist auf beiden Seiten Liebe auf den ersten Blick, doch das Schicksal meint es nicht gut mit dem jungen Paar, denn Asselj soll demnächst mit einem anderen Mann verheiratet werden!
Nach quälenden Tagen der Sehnsucht und Trennung entführt Iljas Asselj in seinem Lastwagen, die beiden gründen einen Hausstand, und als ihnen bald darauf ein Sohn geboren wird, scheint alles eine Wendung zum Guten zu nehmen.

Im Zuge einer Fahrt im Spätherbst trifft Iljas in einer Schlucht kurz vor dem schicksalhaften Dolonpass auf zwei Männer, deren Lastwagen einen Motorschaden hat. Iljas beschließt, das beschädigte Fahrzeug, einem Anhänger gleich, abzuschleppen - ein Vorhaben, das noch niemand zuvor gewagt hat! Spätestens hier merkt man, dass dieser Iljas ein rechter Heißsporn ist, der seinen Kopf unbedingt durchsetzen muss, koste es was es wolle. Es gibt für ihn nie ein Zurück, er ist von sich und seinen Fähigkeiten ungeheuer überzeugt. Das waghalsige Unterfangen gelingt, und als einige Zeit später große Mengen an Material für die Maschinenfabrik in Sinsiang eintreffen, schlägt Iljas vor, ab sofort mit Anhängern zu fahren, um die Fracht schneller an ihr Ziel transportieren zu können. Seine Fahrerkollegen kann er durch Worte nicht überzeugen, also will er allen beweisen, dass er der Beste, Schnellste und Mutigste von ihnen allen ist. Die Fahrt endet katastrophal: In Finsternis und heftigem Schneefall verliert Iljas die Beherrschung über das unzureichend für diese Witterungsverhältnisse ausgerüstete Gefährt, und der Anhänger landet im Straßengraben.
Iljas, unfähig, die Niederlage einzugestehen, flieht in Panik nach Hause, wo ihn die duldsame Asselj und der kleine Sohn erwarten. Weder will Iljas Asseljs noch sonst jemandes Vorschläge hören, wie die Situation einfach zu bereinigen wäre, noch will er sich der vermeintlich unerträglichen Riesenschande stellen. (Motto: "Richte etwas Schlimmes und lauf davon, so schnell dich deine Beine tragen ...") Das Verhältnis zwischen Iljas und Asselj hat sich in der letzten Zeit deutlich verschlechtert, Iljas ist ruppig und brutal geworden. Der Hitzkopf weist alle Hilfsangebote ab, und das Schicksal nimmt seinen Lauf.
Am nächsten Morgen hilft alles nichts, der rabiate Unglücksrabe muss zurück in den Wagenpark! Als er sich später in einer Teestube betrinkt, leistet ihm die Fahrdienstleiterin Kaditscha, die schon lange ein Auge auf den jungen Mann geworfen hat, Gesellschaft. Die Genossin zeigt sich mitfühlend, was den "Helden" natürlich nicht unbeeindruckt lässt. Der Weg des geringsten Widerstandes führt ihn direkt ins Bett der willigen Fahrdienstleiterin.
Iljas Abstieg und Verfall hat begonnen: Er ertränkt seine Gewissensbisse in Alkohol und betäubt sich mit der außerehelichen Affäre. Er meidet Asselj und seinen Sohn, leidet zwar dabei, weiß sich jedoch keinen Ausweg aus dem Schlamassel. So betrügt er letztendlich nicht nur sich selbst, sondern auch beide Frauen.

Unterdessen haben die übrigen Fahrer Iljas' Rat in die Tat umgesetzt: Alle fahren mit Anhängern, die auf die besonderen Erfordernisse der Passhöhe abgestimmt sind, und die Arbeit geht zügig voran.

Eines Tages, Iljas hat reumütig beschlossen, sich zu bessern und alle Widrigkeiten auszuräumen, findet er das Haus leer vor: Asselj hat ihn mit Samat, dem Sohn, verlassen: Sie hat von Kaditscha alles über Iljas Untreue erfahren. Ab hier verliert sich Asseljs Spur für einige Jahre, während Iljas gemeinsam mit Kaditscha als Mitglied einer Forschergruppe in die Anarchaisteppe geht. Doch die Trennung ist unausweichlich; Iljas empfindet keine Liebe für Kaditscha, die hohle Beziehung ist an einem toten Punkt angelangt.

Der vom eigenen Stolz so übel Zugerichtete kehrt zurück und erfährt, dass Asselj einen anderen Mann hat! Reumütig nimmt er seine alte Stellung als Lastwagenfahrer wieder an, und einige Zeit läuft alles ganz gut, bis er nach einem Aufenthalt an den mit Erinnerungen an Asselj beladenen Ufern des Issyk-Kul einen Rückfall erleidet und sich heillos betrinkt. Am nächsten Tag bechert er dumpf weiter und fährt wie besessen hinauf zum Dolonpass. Er hat einen Unfall, wird vom Straßenmeister Baitemir, den er kennt, seit er damals dessen Wagen abgeschleppt hat, gefunden und in das Haus des hilfreichen Mannes gebracht.
Dort allerdings fühlt er sich mit einem Schlag nüchtern: Asselj und sein Sohn leben bei Baitemir, und der kleine Samat nennt den gastfreundlichen Straßenmeister "Papa" ...

Wie es nach dieser prekären Situation weitergeht, woher der eingangs erwähnte Journalist den Straßenmeister Baitemir kennt, und wie dessen bewegende Geschichte klingt, soll hier nicht enthüllt werden ...

"Du meine Pappel im roten Kopftuch", erstmals im Jahr 1961 auf Russisch erschienen, kündet von tiefen Einblicken in menschliche Abgründe und von gefühlsmäßigen Grenzgängen, vom reichen Erleben und Fühlen eines Schriftstellers, der die Schönheit und Macht der Landschaft zu schätzen und zu genießen weiß und auch die Schattenseiten des Daseins kenntnisreich abzubilden vermag.
Die Skala der Sprachgüte reicht von "anrührend poetisch" bis "realistisch-milieugerecht", jedenfalls liest sich die Übersetzung von Juri Elperin zügig und spannend.

Tschingis Aitmatow wurde am 12. Dezember 1928 im Dorf Sheker im Talas-Tal in Kirgisien geboren. 1935 übersiedelte die Familie nach Moskau, wo Tschingis die Schule besuchte. Das Interesse für Kultur und speziell Literatur wurde ihm quasi in die Wiege gelegt, denn seine Eltern waren gebildete und aufgeschlossene Persönlichkeiten, die viel für Kultur übrig hatten. 1937 floh die Familie infolge der stalinistischen Repression nach Kirgisien. 1942 zwang der Krieg Aitmatow, die Schule zu verlassen und verschiedene Funktionen in der Dorf- und Kreisverwaltung zu übernehmen. Er holte den Schulabschluss nach Kriegsende nach. Von 1946 bis 1948 studierte er an der Veterinärfachschule in Dshambul. Damals schrieb er seine ersten Geschichten.
Danach widmete er sich fünf Jahre lang dem Studium an der kirgisischen landwirtschaftlichen Hochschule in Frunse. Ab 1951 war er daneben journalistisch tätig.
In den frühen 1950er Jahren arbeitete Aitmatow als Veterinärmediziner auf dem Experimentiergut des Viehzuchtforschungsinstituts von Kirgisien. 1956 absolvierte er einen Lehrgang für junge Autoren am Maxim Gorki-Literaturinstitut in Moskau. Als Diplomarbeit verfasste er 1958 die Erzählung "Dschamilja", eine wunderschöne Liebesgeschichte, die ihn weltweit bekannt machte. (Die Erzählung erschien 1962 auf Deutsch.)
1959 wurde Tschingis Aitmatow Chefredakteur der Zeitung "Literaturnaja Kirgizija" ("Literarisches Kirgisien"). Ab 1960 war Aitmatow für die Zeitung "Prawda" als Sonderkorrespondent in Mittelasien und Kasachstan tätig.
Von 1988 bis 1990 war Aitmatow Vorsitzender des Schriftstellerverbands in Kirgisien. 1989 wurde er Abgeordneter des Volksdeputiertenkongresses und des Obersten Sowjet. 1990 wurde er Botschafter der UdSSR in Luxemburg, 1995 Botschafter der Republik Kirgistan in Brüssel.
Er schrieb zahlreiche Romane und Erzählungen und wurde 1963 mit dem "Lenin-Preis für Literatur und Kunst",1968 mit dem "Staatspreis der UdSSR",  1991 mit dem "Friedrich-Rückert-Preis" und 1994 mit dem "Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur" ausgezeichnet.

(Anja; 03/2003)


Tschingis Aitmatow: "Du meine Pappel im roten Kopftuch"
Aus dem Russischen von Juri Elperin.
Unionsverlag, 2003. 156 Seiten.
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Tschingis Aitmatow erlag am 10. Juni 2008 im Alter von 79 Jahren in Nürnberg einem Lungenversagen.

Weitere Bücher des Autors:

"Dshamilja"

Eine Geschichte von der Macht des Singens und einer tabubrechenden Liebe in Kriegszeiten.
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"Frühe Kraniche"
"Er fuhr hoch, als der Vater ihn an die Schulter tippte und ihm ins Ohr flüsterte: 'Steh auf, Sultanmurat, wir fahren.' Bevor er aufsprang, überflutete ihn für den Bruchteil einer Sekunde eine Woge von Zärtlichkeit und Dankbarkeit - dem Vater gegenüber."
Für den erst fünfzehnjährigen Sultanmurat soll das tiefe Gefühl der Geborgenheit nicht lange anhalten. Allein und auf sich gestellt muss er im Kriegswinter 1942/43 für seine Familie und seine schwer kranke Mutter sorgen. Fast alle Männer seines Dorfes befinden sich im Krieg, es herrschen Hunger und Kälte im heimatlichen Ail, weit draußen in der öden kirgisischen Steppe.
Verzweifelt wartet Sultanmurat auf eine Nachricht vom Vater, während er zusammen mit ein paar anderen Jungen unter schwersten Bedingungen die Aussaat des Sommergetreides vorbereitet, um die Familie vor dem Tod zu bewahren. Ausgehungerte Zugpferde, heruntergekommene Geräte und Pferdediebe erschweren die Arbeit, aber Sultanmurat gibt die Hoffnung nicht auf. Tapfer übernimmt er die Verantwortung, die ihn zum Mann reifen lässt. Und seine Liebe zur schönen, stolzen Myrsagül gibt ihm den Mut, sich den lauernden Gefahren des Krieges zu stellen.
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