Milena Agus: "Die Frau im Mond"

Eine Liebeserklärung an das große Gefühl, an Sardinien und an eine einzigartige Großmutter


Schon in ihrem ersten, im Frühjahr 2007 bei Klett-Cotta veröffentlichten Roman "Solange der Haifisch schläft" hat die junge sardische Schriftstellerin Milena Agus gezeigt, dass in ihr ein großes Erzählertalent heranwächst.

Auch ihr zweiter, bei Hoffmann und Campe erschienener Roman handelt von der Suche nach Liebe und Erfüllung. Hatte die Protagonistin des ersten Romans ihr Seelen- und Liebesheil noch in allerlei sadomasochistischen Praktiken gesucht, deren oft detailgetreue Beschreibung das Lesen oftmals zu einer Qual machten, weil die geschilderten Szenen ebenso selbstverachtend wie ästhetisch abstoßend waren, beschränkt Agus die Schilderung sexueller Praktiken im neuen Roman auf Andeutungen. Dazu später.

Die Geschichte wird diesmal aus der Perspektive der Enkelin erzählt. Da, wie im ersten Buch, auch hier der Großvater während der nationalsozialistischen Besatzung in einem deutschen Konzentrationslager war, vermutet der Rezensent mittlerweile in beiden Büchern starke familienbiografische Andeutungen der Autorin. Sie erzählt von ihrer Großmutter, einer Frau, die in Sardinien im Hinterland von Cagliari lebte. Sie ist als junges Mädchen nicht sehr erfolgreich mit dem anderen Geschlecht, was wohl, so vermutet nicht nur die aufzeichnende Enkelin, daran liegt, dass sie junge Männer, die Interesse an ihr zeigen, mit heißen Liebesbriefen und erfundenen Geschichten über die leidenschaftlich fantasierte Beziehung ziemlich schnell verjagt. Mit einer solchen Frau, mit solchen Fantasien will keiner etwas zu tun haben. Da dies mehrfach geschieht, und die Großmutter auch sonst so einige Schrullen hat, heute würde man das Kreativität und Fantasie nennen, hat sie schnell bei ihrer Familie, aber auch im Dorf den Ruf, schlichtweg verrückt zu sein.

Im Jahr 1943 kommt ein schon etwas älterer Mann auf der Flucht vor dem Krieg auf die Insel und mietet sich bei den Eltern der Großmutter ein. Schon kurze Zeit später sind die beiden verheiratet, obwohl die junge Frau keine Gefühle für ihn hat. Er befriedigt seine Bedürfnisse im Bordell. Doch es dauert nicht lange, und sie macht ihm den Vorschlag, sie könnte doch im ehelichen Schlafzimmer all diese sexuellen Dienste übernehmen, und so könnte man eine Menge Geld sparen. Der Mann, der jedes Mal nach dem Sex genüsslich seine Pfeife raucht, was ihr sehr gefällt, lässt sich darauf ein, und er scheint es nicht zu bereuen. Die Praktiken werden nicht näher erläutert, doch Milena Agus deutet an, dass die junge Frau am meisten Spaß an denen hat, die im Bordell am meisten kosten würden. Sie haben sozusagen ein für ihre Zeit ungewöhnliches Verhältnis. Sie praktizieren zum Teil harten, leidenschaftlichen Sex ohne Liebe, um sich danach so wie immer zu wünschen:
"Habt eine gute Nacht."
"Habt ebenfalls eine gute Nacht."

Danach drehen sie sich auf ihren jeweiligen Bettrand.

Weil sie die Liebe in ihrem aktuellen Leben nicht spürt, träumt sie weiter von der großen und wahren Liebe. Als sie im Jahr 1950 zur Kur auf das italienische Festland fährt, begegnet sie einem kriegsversehrten Soldaten, dem sie den Namen Reduce gibt. Sie erlebt eine wunderbare Zeit mit ihm, spricht mit ihm über Musik und Gedichte und fühlt eine regelrechte Seelenverwandtschaft zu diesem wunderbaren Mann, den sie vom Schicksal für sich auserwählt wähnt. Sie erzählt wohl auch später ihrer Enkelin mit flammenden Worten von diesem Mann, den wiederzutreffen sie ihr Leben lang nie die Hoffnung aufgibt.

Neun Monate später bringt sie den Vater der Erzählerin zur Welt und fördert diesen Jungen kräftig in seinem großen musikalischen Talent. Auf irgendeine, nur für sie selbst zu erschließende Weise ist sie dem Reduce damit nahe. Es bleibt lange unklar, ob dieses Kind vom Reduce gezeugt wurde. Der Vater der Erzählerin wird ein großer Pianist, und seine Mutter erlebt stets beim Hören seiner Musik jene Wochen mit dem Reduce wieder, dem sie auch weiterhin Gedichte und Briefe schreibt. Ihre Liebe bleibt unausgefüllt, ihr Sehnen ort- und ziellos. Sie kennt den Sex mit ihrem Mann, aber die große Liebe bleibt etwas, das sich in ihrem Leben wohl nie erfüllen wird.

Ganz am Ende des Buches, als die Enkelin nach dem Tod der Großmutter deren Wohnung aufräumt, entdeckt sie ein Schriftstück, das sämtliche Erzählungen und Berichte der Großmutter noch einmal in einem anderen Licht erscheinen lässt ...

"Die Frau im Mond" ist ein schönes, bewegendes Buch, das sicher in so manchem Leser Erinnerungen an eigene, unerfüllte Liebes- und Lebenserfahrungen wachrufen wird .
Milena Agus wird eine große Erzählerin werden. Vielleicht wagt sie sich in ihrem dritten Buch an ein längeres Sujet.

(Winfried Stanzick; 09/2007)


Milena Agus: "Die Frau im Mond"
(Originaltitel "Mal di pietre")
Aus dem Italienischen von Monika Köpfer.
Hoffmann und Campe , 2007. 136 Seiten.
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