Jacqueline van Maarsen: "Ich heiße Anne, sagte sie, Anne Frank"


Manchmal fällt es sehr schwer, einen Eindruck von einem Buch, das man gelesen hat, wiederzugeben. Das kann dann der Fall sein, wenn die Thematik vielschichtig, und die sachliche Ebene vorherrschend ist. Anders als der Großteil der Autobiografen schlägt Jacqueline van Maarsen einen Ton an, der bewusst auf Emotion verzichtet. Sie wählte wohl mit Absicht diese Form des Schreibens, um nicht zu sehr vom Strudel der seinerzeitigen Ereignisse - gerade in Hinblick auf Anne Frank - überwältigt werden zu können. Somit legt sie ein Buch vor, das ungewöhnlich wenig von der Autorin preisgibt, und aufgrund dieses Abstands eine Wirkung auf den Leser ausüben mag, die ein bisschen ratlos macht.

Jacqueline schreibt in einem kleinen Nebensatz von ihrer Verschlossenheit, die Zeit ihres Lebens ihren charakterlichen Kern ausmachte. Jeder Satz ist bewusst so konzipiert, dass er ja nicht zu viel über die Schreiberin offenbaren mag. Dadurch gewinnt die Beziehung zwischen Anne Frank und ihr umso mehr Bedeutung. Denn Anne Frank war ein sehr lebhaftes, mitteilungsbedürftiges Mädchen, und setzte somit einen Kontrapunkt zu Jacqueline. Die Freundschaft der charakterlich so differenten Mädchen sticht wohl am stärksten aus dem autobiografischen Text hervor, da nur aus dieser "Verflechtung" eine Ahnung davon entsteht, wie das Leben der Autorin Jacqueline van Maarsen ausgesehen haben mag.

Von ihren Eltern schreibt Jacqueline noch um eine Spur sachlicher. Ihre Mutter, die das stattliche Alter von 101 Jahren erreichte, war eine Katholikin, während ihr Vater der jüdischen Orthodoxie angehörte. Beide Elternteile hatten beruflich große Erfolge aufzuweisen. Ihre Mutter war Französin, der Vater Holländer. In der Modebranche machten sie sich schnell einen Namen, wobei nach einigem Hin und Her als Wohnort Amsterdam gewählt wurde. Die ersten 100 Seiten des zu besprechenden Buches passiert scheinbar recht wenig. Eine wohlbehütete Kindheit mit allen "Schikanen" erscheint vor den Augen des Lesers. Er erfährt, wie Jacqueline die Vorzüge einer für die damalige Zeit recht wohlhabenden Familie genießt. Die Eltern arbeiten hart, um diesen Erfolg stetig sicherstellen zu können.

Alles klappt buchstäblich wie am Schnürchen. Doch mit einem Mal wird sich alles verändern. Der Nationalsozialismus malträtiert die Juden immer mehr, und die Familie von Jacqueline verliert nach und nach nahezu alles, was sie sich aufgebaut hat. Nunmehr muss die Mutter die Kleider selbst nähen, welche sie entworfen hat. Und Jacqueline wird in eine rein jüdische Schule versetzt, da es keine "gemischten Klassen" mehr geben darf. Die schöne Zeit an der Montessori-Schule ist vorbei. Das Schicksal bringt Anne Frank und Jacqueline van Maarsen in eine gemeinsame Klasse der jüdischen Schule. Und damit beginnt das wesentliche Kapitel des Buches.

Die verschlossene Jacqueline wird von der lebenslustigen Anne buchstäblich überrannt. Von Anfang an investiert Anne unglaublich viel Energie in die Freundschaft zu dem verschlossenen Mädchen. Sie erzählt ihr alles, was es zu erzählen gibt. Schon am ersten Tag des Kennenlernens stellt sie ihre Freundin den Eltern vor, nur kurze Zeit später werden die Eltern von Jacqueline Anne kennen lernen. Anne Frank ist ein richtiger Wirbelwind. Sie kann in der Klasse kaum still sitzen, und "geht" schon bald mit einem Jungen, der eigentlich in Annes Schwester Margot verliebt ist. Jacqueline van Maarsen will zwar nicht zu viele Details erzählen; umso erstaunlicher ist es, dass eine Begebenheit ziemlich weitschweifig dargestellt wird. Und zwar handelt es sich um das Interesse der gerade mal 13-jährigen Anne für Sexualität. Hierbei muss man sich vor Augen führen, dass im Jahre 1942 Sexualität für junge "Damen" ein totales Tabu war. Aber Anne wollte alles wissen, was mit diesem Thema zusammenhing, und wandte sich diesbezüglich auch an einen Jungen, dem sie ein "Geheimnis" zu entlocken versuchte.

Die gemeinsamen Tage von Jacqueline und Anne nehmen keinen allzu breiten Raum ein. Zu sehr ist die Autorin darauf bedacht, mehr über die damalige Zeit von einer Meta-Ebene aus zu reflektieren. Somit ist jede Kleinigkeit in Bezug auf Anne Frank umso kostbarer. Als Anne Frank plötzlich verschwindet, glaubt Jacqueline van Maarsen, dass die Freundin in die Schweiz emigriert ist. Das wird sich freilich viel später als Irrtum herausstellen. Anne Frank wurde nach zwei Jahren zusammen mit ihrer Familie und Freunden in ihrem Versteck aufgespürt, und von den acht Personen, die von der Wienerin Miep Gies versteckt worden waren, überlebte nur der Vater von Anne Frank; Otto. Alle anderen gingen in Konzentrationslagern entweder elendiglich zugrunde (so auch Anne und ihre Schwester Margot) oder wurden in den Gaskammern ermordet.

Jacqueline van Maarsen hat ihr Überleben dem Umstand zu verdanken, dass ihre Mutter, die kurzzeitig zum jüdischen Glauben übergetreten war (um ihren Mann zu heiraten), den Nazi-Schergen glaubhaft machen konnte, sozusagen überrumpelt worden zu sein, und nicht gewusst zu haben, dass ihr Mann sie zur Jüdin "gemacht" habe. Sie wurde in diesem Sinne wieder dem "Schoß der katholischen Kirche" übergeben, wodurch auch Jacqueline wieder zur Katholikin wurde. Ansonsten wäre die Chance auf ein Überleben so gut wie nicht gegeben gewesen.

Die Autorin hat einiges zu erzählen; tut dies jedoch mit wohlüberlegter Sachlichkeit, wodurch die Geschichte ziemlich unterkühlt den Kopf des Lesers durchdringen mag. Es ist aber zu bedenken, dass gerade in Hinblick auf die tragischen Ereignisse der Nazi-Zeit diese Sachlichkeit angebracht ist, und etwa der Literaturnobelpreisträger Imre Kertész in seinem "Roman eines Schicksallosen" ähnlich verfuhr. Allerdings ist Jacqueline van Maarsen - wie bereits erwähnt - im Charakterkern ein verschlossener Mensch, wodurch auch die Geschehnisse abseits dieser grauenhaften Zeit durch überbordende Sachlichkeit gekennzeichnet sind. Dies mag für den Leser ein wenig gewöhnungsbedürftig sein; gereicht aber diesem wichtigen Dokument zur Zeitgeschichte keineswegs zum Nachteil. Die Autorin hat ein unbekanntes Kapitel der Anne Frank zumindest angedeutet, und durch die Darstellung des Verhältnisses zwischen der lebenslustigen, quirligen Anne Frank und der durch und durch verschlossenen Jacqueline van Maarsen können insbesondere die Eintragungen im Tagebuch der Anne Frank, welche sich auf "Jopie" (so nannte Anne Jacqueline) beziehen, in einem neuen Licht betrachtet werden.

(Jürgen Heimlich; 06/2004)


Jacqueline von Maarsen: "Ich heiße Anne, sagte sie, Anne Frank"
S. Fischer, 2004. 250 Seiten.
ISBN 3-10-048822-9.
ca. EUR 17,90. Buch bestellen

Jacqueline van Maarsen, geboren 1929, wuchs als Tochter eines holländischen Juden und einer französischen Katholikin in Amsterdam auf. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie Buchbinderin.

Ergänzende Buchempfehlungen:

Willy Lindwer: "Anne Frank. Die letzten sieben Monate. Augenzeuginnen berichten"
Sieben jüdische Frauen, die Anne Frank und ihrer Familie nahestanden, berichten in diesem Buch von ihrem Leben vor dem Krieg, von der Verfolgung, Verhaftung und Deportation und von ihrem Überleben in den Konzentrationslagern. Manche kannten die Franks aus der Zeit vor dem Untertauchen, andere lernten Anne erst auf dem Transport oder in den Lagern kennen, sahen sie noch Mitte 1945 und sprachen mit ihr: "In den letzten Tagen stand Anne vor mir, in eine Decke gehüllt. Sie hatte keine Tränen mehr ... und sie erzählte, es hätte ihr so gegraut vor den Tieren in ihren Kleidern, dass sie alle ihre Kleider weggeworfen hätte ... Zwei Tage später bin ich hingegangen, um nach den Frank-Mädchen zu sehen. Sie waren beide tot." Willy Lindwer ist es zu danken, dass er diese Zeuginnen aufgespürt hat und mit großer Behutsamkeit dazu brachte, von sich zu erzählen. Was sie erlebt und gefühlt haben, hat auch Anne Frank erfahren. Diese Frauen haben das letzte, "ungeschriebene" Kapitel von Anne Franks Tagebuch öffentlich gemacht. (Fischer)
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Melissa Müller: "Das Mädchen Anne Frank"
Ihr Tagebuch ist das meistgelesene literarische Dokument über die Gräueltaten der Nationalsozialisten und hat sie zu einer der bekanntesten Figuren des 20. Jahrhunderts gemacht. Anne Frank war vier Jahre alt, als sie Deutschland verlassen musste, dreizehn, als sie sich von den Nazis versteckte, und nicht einmal sechzehn, als sie im Konzentrationslager starb - eines der sechs Millionen unschuldiger Opfer von Hitlers Rassenwahn. Durch ihr Tagebuch ist Anne Frank zum Mythos geworden. Doch welcher Mensch steckt hinter dem Mythos? Wie hat Anne Frank vor ihrer Flucht gelebt, und wie haben die Vorboten des Nationalsozialismus ihre frühe Kindheit geprägt? Was ging in dem jungen Mädchen vor, das in einer Zeit, in der ihre Altersgenossen erste Liebesbande knüpften, mit seinen Träumen und Sehnsüchten in einem Hinterhaus gefangen war? In unzähligen Gesprächen mit teils zuvor noch nie befragten Zeitzeugen rekonstruiert Melissa Müller nicht nur die frühen Frankfurter Jahre der Familie Frank im Klima des aufkeimenden Antisemitismus, sondern auch ihr Leben im Versteck in der Amsterdamer Prinsengracht. Und geht dabei weit über den Rahmen der klassischen Biografie hinaus: Bislang gemeingehaltene und hier nun erstmals veröffentlichte Dokumente - brisantes Material - eröffnen ein völlig neues Bild von Annes Verhältnis zu ihrer Mutter. Bis dato nie publizierte Fotos erweitern das Bild der Familie Frank. Eine auf neuen stichhaltigen Beweisen gegründete Theorie gibt Aufschluss darüber, wer die Franks verraten haben könnte. Und: In einem eigens verfassten Nachwort spricht die Helferin Miep Gies über ihre Beweggründe, als junge Frau Annes Familie für zwei Jahre im Amsterdamer Hinterhaus zu verstecken. Mit ihrem ebenso einfühlsamen wie genauen Blick hinter den Mythos, zu dem Anne Frank gemacht wurde, legt Melissa Müller neben der ersten umfassenden Biografie zugleich eine wichtige Geschichte gegen das Vergessen vor. (Claassen; Ullstein)
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Matthias Heyl: "Anne Frank"
Die Monografie über Anne Frank, 1929 in Frankfurt geboren und Ende Februar / Anfang März 1945 in Bergen-Belsen gestorben, erzählt nicht ihr Tagebuch nach. Sie zeichnet vielmehr ihre Lebensgeschichte auf im Kontext ihrer Familie, der Freunde und Helfer in Amsterdam, der Lebensbedingungen in der Emigration und schließlich im Versteck. (Rowohlt)
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David Barnouw, Gerrold van der Stroom: "Wer verriet Anne Frank?" zur Rezension ...