Frans de Waal: "Der Affe in uns"

Warum wir sind, wie wir sind


Schimpanse, Bonobo, Mensch: Vettern mit Familienähnlichkeit und frappierenden Unterschieden

Seit Darwin darauf hinwiesen hat, dass Menschen und Affen gemeinsame Vorfahren besitzen, ist viel Zeit vergangen, in der sich die meisten von uns damit abgefunden haben, ein - zugegebenermaßen recht ungewöhnliches - Tier unter vielen zu sein. Auch unsere auf den alten Primatenwurzeln basierenden Verhaltensweisen sind kein Tabu mehr, weder unter Forschern noch in der Öffentlichkeit. Um die Interpretation des Menschenaffen und Menschen gemeinsamen Verhaltens auch für Laien hat sich zunächst vor allem Desmond Morris ("Der nackte Affe" u. a.) verdient gemacht; ebenso hat Frans de Waal, der sich seit Jahrzehnten intensiv mit Zooschimpansen und -bonobos befasst, einige interessante populärwissenschaftliche Werke zum Thema verfasst.

Sein Buch untersucht wesentliche Aspekte des Primatenverhaltens, aus denen sich praktisch unser gesamtes Handeln ableiten lässt: das Familienleben, Macht, Sex, Gewalt, Sanftmut - und natürlich die fließenden Übergänge.

De Waal betrachtet dabei vor allem die sehr unterschiedlichen "Charaktere" von Schimpansen und Bonobos. Während der Schimpanse vor einiger Zeit seinen Ruf als sanfter Vegetarier verloren hat und man inzwischen weiß, dass er stark zur Aggressivität neigt, die nicht selten in Kannibalismus und zuweilen gar in genozidartigen Vorgängen gipfelt, ist sein weniger beachteter Vetter Bonobo ein bisschen der Hippie unter den Primaten: "Liebe, nicht Krieg", könnte seine Devise lauten, denn bei den Bonobos dienen zahllose sexuelle Handlungen zwischen Angehörigen sämtlicher Geschlechter und Altersstufen als Beziehungskitt - und der erweist sich als sehr haltbar. In den matriarchalisch geprägten Bonobogesellschaften kommen Aggressionen vor, aber sie eskalieren nicht; Todesfälle wurden bisher nicht beobachtet.

Frans de Waal wendet sich entschieden gegen die Auslegung des gut dokumentierten, häufig so brutalen Schimpansenverhaltens als Entschuldigung für vergleichbare Handlungen des Menschen: Krieg, Mord, Vergewaltigung, Diskriminierung, Xenophobie. Die Anlagen dazu finden sich in unserem Primatenerbe, aber sie müssen uns nicht dominieren, wie der Bonobo zeigt, der sie (sofern man die primatentypische Hierarchieordnung im Clan nicht mit Diskriminierung gleichsetzt) nicht praktiziert, und der mit uns keineswegs weitläufiger verwandt ist als der rauflustige Schimpanse.

Und auch dem Schimpansen sind "positive" Regungen wie Empathie und Wille zur Versöhnung keineswegs fremd, im Gegenteil, ohne sie wären Schimpansengemeinschaften zum Untergang verurteilt. Kein Wunder, dass de Waal gerade diese "moralisch hoch stehenden" Verhaltensweisen mit Interesse und Nachdruck verfolgt. Hier kommen auch geschlechtstypische Unterschiede zum Vorschein, denn bei den Schimpansen sind es beispielsweise die Weibchen, die zwischen Streitende gehen und versuchen, Eskalationen zu verhindern. Aber sie tun sich mit dem Versöhnen untereinander wesentlich schwerer als die Männchen (die nach einer handfesten Auseinandersetzung bald wieder sozusagen ein Bierchen mit dem Rivalen trinken gehen) und neigen dazu, Feindinnen Versöhnungsangebote vorzutäuschen, um sie dann kräftig zu vermöbeln. Bei den Bonobos mit ihrer matriarchalischen Organisation ist die Tendenz umgekehrt. Die Kriegsführung gegen andere Gruppen übernehmen bei den Schimpansen die Männer. Viele Parallelen sind interessant, und de Waal liegt sicher richtig mit seiner Auffassung, unser Verhalten sei zwischen Schimpanse und Bonobo angesiedelt, weshalb wir, wenn wir unsere Ethik biologisch rechtfertigen wollen, auch den zierlicheren, zärtlich-sanften Vetter angemessen berücksichtigen sollten.

Zuweilen schießt de Waal etwas über das Ziel hinaus und argumentiert nicht ganz logisch: "Aber wenn das eigene Wohlergehen alles ist, um was sich Menschen kümmern, warum weint dann ein wenige Tage altes Baby, wenn es ein anderes kreischen hört?" (S. 9 f.) - Aus einem beginnenden Einfühlungsvermögen heraus, meint de Waal; mindestens ebenso schlüssig wäre jedoch: weil das "fremde" Weinen Gefahr oder Mangel signalisiert und das Baby instinktiv um seines Wohlergehens willen nach der Mutter schreit, die es aus der bedrohlichen Lage retten soll.

Auch scheint es mir zum Beispiel falsch zu behaupten, dass die Verfechter der "Out-of-Africa-Hypothese" Aggression mit Fortschritt gleichsetzen und folgern, dass unsere Vorfahren auf ihrem Weg nach Asien und Europa die anderen Menschenarten durch Mord und Totschlag aktiv ausrotteten (S. 37): Es gibt genügend Bücher seriöser Autoren, die von passiver Verdrängung durch bessere Anpassung schreiben.

Hier und da muss man de Waals Buch also kritisch lesen; es ist nicht frei von Subjektivität, auch wenn man mit den Schlüssen des Autors letztlich übereinstimmen mag.

Frans de Waal schreibt informativ, dabei spannend und humorvoll, sodass die Lektüre ein anregendes Vergnügen bietet, wozu auch die sehr ansprechende Aufmachung des Buchs beiträgt. Eine Reihe von Fotos dokumentiert typische Verhaltensweisen von Schimpansen und Bonobos.

Wie der Untertitel verspricht, bietet das Buch die Möglichkeit, unser eigenes Verhalten und Fühlen besser zu verstehen und zu seinen Millionen Jahre alten Wurzeln zurückzuverfolgen.

(Regina Károlyi; 09/2006)


Frans de Waal: "Der Affe in uns. Warum wir sind, wie wir sind"
Deutsch von Hartmut Schickert.
Gebundene Ausgabe:
Hanser, 2006. 366 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2009.
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Frans de Waal wurde am 29. Oktober 1948 in Den Bosch, Niederlande, geboren. Er zählt zu den bekanntesten Primatenforschern der Welt.
Frans de Waal starb am am 14. März 2024 in Atlanta in Georgia.

Weitere Bücher des Autors:

"Der Affe und der Sushimeister. Das kulturelle Leben der Tiere"

Unser Blick sieht und inszeniert eine Menschenähnlichkeit der Tiere, die unvollkommen bleibt und uns darin des Unterschieds zwischen Mensch und Tier versichert. De Waals anschauliches und anekdotisches Buch zeigt die fundamentale Bedeutung, die dieser Unterschied für unser Selbstverständnis hat. Gleichzeitig löst er ihn auf, denn auch Tiere besitzen die Fähigkeit, zu lernen und Gelerntes weiterzugeben. Wie "anders" können wir sein, wenn auch die Tiere ihre Kulturen entwickeln und verändern?
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"Der gute Affe. Der Ursprung von Recht und Unrecht bei Menschen"
Moral und Ethik sind älter als der Mensch, tugendhaftes Verhalten fußt auf einem genetischen Fundament, das in den Grundzügen bereits beim Affen angelegt ist. So lautet die provokante These des Primatologen und Verhaltensforschers Frans de Waal. Seine Beobachtungen an Primaten ergeben, dass diese genauso wie Menschen Gut und Böse, Falsch und Richtig oder Recht und Unrecht erkennen. Anhand wunderbarer, überraschender Geschichten ist ein spannend zu lesendes und anschaulich in die fortgeschrittenste Verhaltensforschung einführendes Buch entstanden, das erste Antworten auf die Frage gibt, ob Tiere Verhaltensweisen an den Tag legen, die der Güte und gewissen Regeln moralischen Verhaltens beim Menschen entsprechen.
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"Das Prinzip Empathie" zur Rezension ...

Noch ein Buchtipp:

Julia Fischer: "Affengesellschaft"

Kämpfende Berberaffen, schreiende Bärenpaviane, kuschelnde Guineapaviane: Das sind nur einige der Protagonisten dieses spannenden Buches. Die Primatenforscherin Julia Fischer geht in ihm den Fragen nach, welche Informationen Affen mittels ihrer Laute, Gesten und Grimassen austauschen und ob sie so etwas wie eine Sprache besitzen. Durch die Verbindung von Labor- und Feldforschung gelingt es ihr, erstaunliche Gemeinsamkeiten im Sozialverhalten von Mensch und Affe aufzuzeigen, aber auch die Unterschiede, die uns von unseren nächsten Verwandten trennen, darzustellen.
Ob im Senegal, in Botswana oder in einem Freilandgehege in Frankreich: Fischer beschreibt Sozialverhalten, Intelligenz und Kommunikation der Affen auf ebenso anspruchsvolle wie unterhaltsame Art und Weise. Angereichert um viele Episoden aus dem Forschungsalltag, in dem nicht nur Gefahr durch Leoparden droht oder bürokratische Hürden zu bewältigen sind, ist dies ein Buch, das auf der Höhe des Forschungsstandes sein Thema allgemeinverständlich beschreibt: die Affengesellschaft. (Suhrkamp)
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