Willem Frederik Hermans: "Das heile Haus"


Verdichtete Momentaufnahmen von Extremsituationen: " (...) ein Galgen mit Platz für eine ganze Familie"

Am 1. September 2011 wäre Willem Frederik Hermans (1921-1995) 90 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass erschien die deutsche Übersetzung seiner Novelle "Het behouden huis", die auf ebenso zeitlose wie drastische Weise veranschaulicht, wie schmal die Grenze zwischen zivilisiertem und barbarischem Verhalten ist, wie nicht wenige Individuen in Kriegszeiten völlig verrohen und was sie dabei anzurichten imstande sind, wobei die Umkehrbarkeit dieser Wandlung mehr als fraglich bleibt.
Hermans hat in seinen Werken wiederholt den nicht immer aufrichtigen Umgang seiner Landsleute mit dem Zweiten Weltkrieg, was Kollaboration, Verrat und Opfermythos anbelangt, thematisiert und die letzten Endes infernalische Gratwanderung des Einzelnen zwischen Mitläufertum und Widerstand in seinem fulminanten Roman "Die Dunkelkammer des Damokles" auf die Spitze getrieben.

"Das heile Haus", im Original 1950 vollendet und anno 1952 erschienen, hat als Schauplatz ein Stück blutig umkämpftes Niemandsland zwischen den Fronten gegen Ende des Zweiten Weltkriegs: Deutsche auf dem Rückzug, vordringende Russen und Partisanen liefern einander Scharmützel, Kriegsflieger donnern darüber hinweg.
Als distanzierter, präziser Icherzähler fungiert ein namenloser niederländischer Partisan, seit einigen Jahren Mitglied einer gemischtnationalen Truppe, die sich aufgrund von Sprachenwirrwarr und daraus resultierenden Verständigungsschwierigkeiten mehr schlecht als recht durchschlägt - Anderes über seine Vergangenheit erfährt man nicht. Ein ihm wieder einmal unverständlich gebliebener Befehl seines Vorgesetzten führt den Erzähler in einen nahegelegenen Luxuskurort, wo er "Das heile Haus", eine erstaunlicherweise unversehrte, scheinbar verlassene Villa, zwanghaft in Besitz nimmt, endlich ein heißes Bad nehmen, saubere Kleidung anziehen und ausschlafen kann; quasi opportuner Kostüm- und Rollenwechsel innerhalb der Friedenskulisse, zumindest für eine kurze Zeit. Beim Erkunden der Villa entdeckt er ein abgeschlossenes Zimmer, das, wie sich Wochen später zeigen wird, ein überraschendes Geheimnis birgt.
Doch bleibt der junge Niederländer nicht lange ungestört: Zunächst quartieren sich deutsche Soldaten bei ihm, dem selbsternannten Hausbesitzer, ein, und als die wahren Eigentümer zurückkehren, nimmt das grauenvolle Unheil seinen Lauf ...
Für einen kulturbewussten deutschen Offizier, einen betagten ungarischen Fischzüchter und dessen Angehörige wird die Villa zum unentrinnbaren Schicksalsort.

Beeindruckend schildert Hermans die Gedanken und Taten eines jungen Mannes, der sich, wie viele Andere damals, von der zivilen Lebenswirklichkeit verabschiedet hat, deswegen mit Seinesgleichen außerhalb jeglicher Ordnung steht und im Ernstfall wie ein Psychopath agiert, was nicht heißen soll, dass er gänzlich ohne sozialtaugliche Maskierung auskommen würde.
Willem Frederik Hermans setzt die Villa als Kulisse, Symbol und Spiegel der verstörten Seele des Protagonisten ein, die einzelnen Zimmer stehen für unterschiedliche Arten des letztlich unmöglichen Rückzugs aus der fremdbestimmten Gegenwart. Der Partisan wird in seinen eigenen Worten und dadurch in absurder Ernsthaftigkeit als in den zeitweiligen Stillstand geflüchteter Amokläufer vorgeführt.

In größtmöglicher Verdichtung werden die fatalen Auswirkungen von Werteverlust, Entwurzelung und Zerstörungswut demonstriert, wenn der Mensch tendenziell instinktiv auf Bedrohungen reagiert, vornehmlich nur mehr noch im Augenblick lebt und die moralische Ambivalenz offenbar wird. Der Erzähler hat sich in seiner weitgehend gefühllosen Egozentrik eingerichtet, an die alltägliche Barbarei gewöhnt und ist abgestumpft. Seine einmal hellwache, dann wieder verstümmelte Wahrnehmungsfähigkeit vermittelt dem Leser ein verstörendes Bild von absurden Grausamkeiten und entlarvt einmal mehr die Relativität allfälliger als normal empfundener Realitäten.

Eine von Cees Nooteboom am 4. November 2005 gehaltene Rede beschließt den schmalen Band.
"Das heile Haus" erzählt nicht beschönigend von Kriegshelden, sondern erschütternd von entfremdeten Gesetzlosen, die mit aller Gewalt das Chaos zu überleben trachten, und von deren Opfern.

(kre; 07/2019)


Willem Frederik Hermans: "Das heile Haus"
(Originaltitel "Het behouden huis")
Aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert.
Aufbau, 2011. 126 Seiten.
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