Julya Rabinowich: "Krötenliebe"


Eine Biopsie der Leidenschaften

Hier sind sie alle versammelt, eingeweckt in ihren Gläsern, und betrachten gleichmütig vom Buchumschlag aus die Leser. In der Mitte, groß und alle überragend, Alma Mahler-Werfel, die Muse des Wiener Fin de Siècle schlechthin, rechts von ihr der Biologe Paul Kammerer und zu ihrer linken Seite der Maler und Schriftsteller Oskar Kokoschka. Ganz außen ist noch ein kleiner Salamander zu sehen, eines der Forschungsobjekte Kammerers. Alle miteinander verbunden, außer dem Salamander, in einem Zirkel manischer Leidenschaften, aufbewahrt im Archiv der kollektiven Erinnerung der kulturhistorischen Moderne und nun, hundert Jahre später, hervorgeholt, abgestaubt, begutachtet und neu arrangiert.
Julya Rabinowich ist die Kustodin, die in geschulter Manier den Lichtstrahl durch die Staubschichten auf Vergessenes und Bekanntes gleichermaßen richtet.

Sie fängt an mit Kokoschka, dem rasend Liebenden, der von Alma verlassen und vom Krieg verwundet, in Dresden gelandet ist und sein altes Leben mit Hilfe einer Puppe wiederzubeleben versucht. Eine extra angefertigte, lebensgroße Alma-Puppe, so realistisch wie möglich, aber so steif wie eben Stoff und Sägespäne sind. Er nennt sie Almi, sitzt mit ihr am Tisch, speist mit ihr, liegt mit ihr im Bett, tätschelt sie und sonst was, aber selbst als Puppe ist sie ihm noch eine unbegreifliche Sphinx. Als alles noch in Ordnung war, schrieb ihr Kokoschka, dass sie eine Sphinx wäre, die nicht leben noch sterben kann, aber den Mann umbringt, der sie liebt. Schließlich hackt er ihr, der Puppe, den Kopf ab, überschüttet sie mit Rotwein und wirft sie weg.

Der Biologe Kammerer ist ein ebenso glühender Verehrer Almas wie leidenschaftlicher Wissenschaftler. Als Forscher an der Biologischen Versuchsanstalt im Prater, die später von den Nationalsozialsten und dem Krieg zerstört werden sollte, versuchte er in jahrzehntelangen Experimenten mit Kröten und Salamandern den Nachweis zu erbringen, dass sich durch Umwelteinflüsse entstandene Eigenschaften 
vererben können. Er war gebannt in seiner Begeisterung für die Tiere, in denen er wundervolle Geschöpfe sah, vollendet elegant in Farbgebung, Bewegung und Benehmen. Nach wissenschaftlichen Höhenflügen wurde er des Betrugs bezichtigt, worauf er sich das Leben nahm. Heute wird er als ein Vorläufer der Epigenetik diskutiert. Seine Verehrung für Alma, für die er den Stuhl küsste, auf dem sie saß, blieb eine kurze Leidenschaft.

Und Alma? Die reiche Witwe, die Unterhaltung suchte, ein bisschen Sinn, Aufgabe, Leben? Diese unbekümmerte, verwöhnte Frau, die in der Wiener Künstlerszene groß geworden und gewohnt war, von berühmten Künstlern hofiert zu werden, sammelte nicht nur Genies um sich, sondern versprach vor allem, dieses oder jenes Talent zu einem Genie zu machen. Sie gefiel sich in der Rolle der marionettenspielenden Muse. Alma kehrte das System der nachgiebigen Frau und des männlichen Genies einfach um, so wie man Hemden und Hosen wendet.
Das Genie war ihr Objekt, das nur durch ihre Wirkung und Pflege herausragende Produkte erzeugte, die wiederum das Ego der Schöpfer stärkten. Genies als Trophäen. Und die Männer benahmen sich in dieser ungewohnten Konstellation einfach lächerlich und unpassend.

"Er neigte zu manischer Arbeit, ... zu dramatischen Affären", heißt es an einer Stelle über Kammerer, was aber über jeden der Protagonisten hier gesagt werden könnte. Manie, Theatralik, Obsession, und alles zusammen vereinigt in Leidenschaft, daraus lassen sich Tragödien zimmern. Julya Rabinowich widmet sich mit Hingabe der Sezierung dieser exzentrischen, ekstatischen Leidenschaften, ohne Vorurteil und ohne Bewertung. Sie zeigt uns einen amüsanten und kurzweiligen Blick in das Sammelsurium menschlicher Leidenschaften. Und wir, das Publikum, lassen uns gerne von fremden Leidenschaften faszinieren und amüsieren und stellen dann mit einem Seufzer der Verwunderung das Glas mit den konservierten Erregungen zurück auf das Regal. Wir ahnen, dass, wie die Autorin es formuliert, "alles, was unsägliche Schmerzen bereitet, wie eine unerfüllte Fixierung, ... einmal verlockenden Glanz (hatte)." Wie auch immer, unser Panoptikum der Affekte ist wohl bestückt.

Julya Rabinowich wirft einen kühl-verwunderten Blick auf Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts, skizziert mit schwungvoller Hand "wie das Land von einer imposanten Weltmacht zu einem kleinen konzentrierten Stückchen Erde um die Prachtbauten des imperialen Ringes destilliert wurde". Seine Bewohner geben sich ihren Leidenschaften wie in einer Parallelrealität hin. Alma als marionettenspielende Muse und Trophäensammlerin. Kokoschka, der geniale Maler, der seine unerfüllte Leidenschaft und Besitzgier mit einer Puppe zu befriedigen suchte. Kammerer, der Wissenschaftler, der seine Obsession auf die Geliebte überträgt.
Eine hundert Jahre alte Versuchsanordnung von Leidenschaft, die in dieser spannenden Neuinszenierung zu neuem Leben erweckt wird.

(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 04/2016)


Julya Rabinowich: "Krötenliebe"
Deuticke, 2016. 192 Seiten.
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