Joseph O'Neill: "Der Hund"


Die Auswüchse des Turbokapitalismus

Im Jahr 2009 erschien der bisher einzige in deutscher Sprache erhältliche Roman "Niederland" des in New York lebenden türkisch-irischen Autors Joseph O'Neill. Die beiden früheren Romane "This is the Life" und "The Breezes" blieben ebenso unbeachtet wie seine hervorragende, detektivisch genau recherchierte Familiengeschichte "Blood-Dark Track", die sich mit der Historie seiner beiden Großväter beschäftigt, die während des Zweiten Weltkriegs aus ganz unterschiedlichen Gründen politisch inhaftiert waren.
Nun, nachdem "Der Hund" für den renommierten "Booker-Prize" nominiert war, ist dieser Roman auf Deutsch bei Rowohlt erschienen.

Dessen Protagonist ist anno 2007 Anwalt in New York, der nach der Trennung von seiner im selben Unternehmen arbeitenden Freundin zufällig einen alten Studienkollegen trifft, der ihm anbietet, in seinem Familienunternehmen in Dubai zu arbeiten. Glücklich über diese Chance, aus New York zu verschwinden, nimmt er das Angebot an. Bereits zu Beginn zeigt sich, dass alles, was mit diesem Unternehmen zu tun hat, recht zwielichtig und schräg ist. Er fliegt nach London, um den Bruder seines Freundes zu treffen, nur um herauszufinden, dass er seinen neuen Arbeitgeber knapp verpasst hat, obwohl das Treffen erst später stattfinden hätte sollen. Auch nachdem er endlich in Dubai ist, geht alles irgendwie so weiter. Nichts ist greifbar, nichts ist fix.

Obwohl er Familientreuhänder des Familienimperiums wird, ist sein Tätigkeits- und Aufgabenbereich zutiefst undurchsichtig. Was er genau tun soll, bleibt nicht nur ihm, sondern auch dem Leser bis zum Schluss des Romans unklar. Einen seriösen Einblick in die Geschäfte des Clans erhält er nicht, er liest und löscht immerfort E-Mails, lebt in einem Hochhaus, das sich anfühlt wie ein riesiges Aquarium.

Die meiste Zeit verbringt er nun damit, sich Gedanken zu machen. Über die Arbeitsumstände in Dubai, die denen gleichen, die man gemeinhin mit Sklavenhaltung vergleichen könnte. Er denkt über die Vergangenheit nach, sinniert über die Gründe und Hintergründe der Trennung von seiner Freundin, über den Wunsch nach einem Hund als Haustier, darüber, was er in Dubai tun soll oder nicht.
"Im Kopf Mails zu verfassen frisst Zeit und Energie. Eine Stunde vergeht, bis ich das Obige zu meiner (relativen) Zufriedenheit formuliert habe und daran denken kann, mich meiner eigentlichen Arbeit und meiner obersten Priorität zu widmen, die darin besteht, meine persönlichen Haftungsausschlussklauseln aufzusetzen. Allerdings fehlt es mir an Aufmerksamkeit. Ich bin zu erschöpft und geplagt. Normalerweise würde ich ein Nickerchen machen, aber wegen des Spitzels in der Ecke kann ich das verdammt noch mal nicht."

Diese Betrachtungen sind zum Großteil äußerst interessant und zeigen einen Menschen, der, in innerer Isolation lebend, versucht, mit einer Welt klarzukommen, in der nichts wichtig ist, außer der Vermehrung des Kapitals.

Durchgehend passieren skurrile Dinge, die den Protagonisten beschäftigen, aber nie aufgeklärt werden. Der tauchende Nachbar Ted Wilson, dem man den Spitznamen "der Mann von Atlantis" verliehen hat, verschwindet beispielsweise, doch das interessiert niemanden. Und wenn dessen Frau plötzlich unangemeldet beim Protagonisten auftaucht, dann endet das damit, dass man sich als Leser fragt, wieso diesen Figuren einfache menschliche Fähigkeiten derart fehlen.

Man ist dabei, wenn rauschende, fast lächerlich übertriebene Feiern stattfinden, auf Luxusyachten, in Restaurants, wenn unzählige einander kennende Menschen allein in ihren SUVs mit demselben Abfahrtsort und Ankunftsziel durch die Wüste brettern, wenn der Protagonist sich mit den vermeintlichen Herkunftsorten beschäftigt, aus denen die Damen der Nacht stammen wollen, mit denen er sich die Nächte vertreibt.
"Mich mit Mila und ihren Freundinnen anzufreunden hatte die nicht vorhersehbare Folge, dass ich ziemlich neugierig und kenntnisreich geworden bin, was die Lage Russlands und der postsowjetischen Staaten angeht. Ich kenne nicht nur den Unterschied zwischen Kasachstan und Usbekistan, sondern habe auch Omsk, Bischkek, Eriwan, Perm, Poltawa und Ternopil auf meiner Karte. Das bedeutet nicht, dass ich mich für die Lebensumstände dieser Damen interessiere. Absolut das Letzte, worüber ich mich mit ihnen unterhalten will, ist ihre Vorgeschichte. Aber für Geographie habe ich mich schon immer interessiert ..."

Fast durchgehend im inneren Monolog komponiert, ist "Der Hund" eine absolut grandiose Nah- und Innenaufnahme des durch und durch ich-bezogenen narzisstisch gestörten Menschen in unserer Zeit. Einer Zeit, die durch geistige Verblödung aufgrund von und mit den sozialen Netzwerken, durch einen eklatanten Mangel an Empathie und Einfühlungsvermögen, durch die kapitalistisch verseuchte konsumorientierte Lebensweise, die dazu führt, dass selbst das Scheitern an den Umständen der Ereignislosigkeit und des Desinteresses als Nebensächlichkeit hingenommen wird, geprägt ist.

Hervorragend übersetzt von Nikolaus Stingl, ist dieser komplex verschachtelte Roman eigentlich eine Zumutung, allerdings im besten Sinn des Wortes. Eine Zumutung, die man als Herausforderung lesen muss, auch wenn es immer wieder weh tut.

Absolute Empfehlung.

(Roland Freisitzer; 05/2016)


Joseph O'Neill: "Der Hund"
(Originaltitel "The Dog")
Übersetzt von Nikolaus Stingl.
Rowohlt, 2016. 315 Seiten.
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Joseph O'Neill wurde 1964 als Sohn eines Iren und einer Türkin in Cork geboren und wuchs in Holland auf. Er studierte Jura in Cambridge und arbeitete als Anwalt in London. Später ließ er sich als freier Autor mit seiner Familie in New York nieder. Für seinen internationalen Erfolgstitel "Niederland" wurde er anno 2009 mit dem "PEN/Faulkner-Award" ausgezeichnet.

Ein weiteres Buch des Autors:

"Niederland"

Inmitten der Hysterie nach dem 11. September sucht der holländische Bankier Hans van den Broek nach einem neuen Leben in einer erschütterten Stadt. Er ist einsam, lebt verlassen von Frau und Kind unter den exzentrischen Gestalten im legendären "Chelsea Hotel". Doch dann lernt er Chuck Ramkisson kennen, einen dunkelhäutigen Westinder. Chuck ist einer der Wenigen, die den US-Amerikanischen Traum noch ungebrochen träumen und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Mit ihm macht Hans sich auf, ein ihm gänzlich unbekanntes New York zu entdecken, und eine ungewöhnliche Freundschaft beginnt.
Ein begeisternder und weiser Roman über New York, die Stadt, die eine Welt umfasst. (rororo)
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