Kerstin Decker: "Die Schwester"

Das Leben der Elisabeth Förster-Nietzsche


"Sei wieder gut, liebes Lama! Dein Bruder!"
Die Schwester und das Genie: Elisabeth Förster-Nietzsche im Porträt


Ach, du liebes Lama, was für ein außergewöhnlicher Kosename, den Friedrich Nietzsche seiner jüngeren Schwester Elisabeth als Kind gab und der für ein Tier stand, das freiwillig die schwersten Lasten trägt, sich aber unter Zwang verweigert. So blieb sie immer das liebe Lama in dieser außergewöhnlichen Geschwisterbeziehung, inniglich verbunden in Liebe und Hass. Statt sich ein eigenes Leben aufzubauen, führte die kleine Schwester den Haushalt des großen Bruders, des Herrn Professors in Basel, kümmerte sich um die Verlagsangelegenheiten bei der Herausgabe seiner ersten Werke und intervenierte unbekümmert gegen Lou von Salomé, eine erste Liebe von Friedrich Nietzsche. Es kam zu Zerwürfnissen und Versöhnungen, bis die Schwester einen bekennenden Antisemiten namens Dr. Bernhard Förster heiratete, um mit ihm eine arische Kolonie Nueva Germania in Paraguay aufzubauen. Rund fünf Jahre lebte sie dort, bis ihr Mann wegen Finanzierungsschwierigkeiten Selbstmord beging und Elisabeth schließlich nach Deutschland zurückkehrte. In der Zwischenzeit war Friedrich schwer erkrankt und zum Pflegefall geworden. Elisabeth nahm kurzerhand die Familienangelegenheiten in ihre Hand: Pflege des Bruders, Herausgabe seines Werkes, Gründung eines Archivs im Wohnhaus. Sie ermächtigte sich selbst zu Sprachrohr, Verwalterin und Verlegerin von Friedrich Nietzsche.

"Sie ist eine kleine, zierliche, noch hübsche Frau, mit frischer Gesichtsfarbe und Locken, die Energie sieht man ihr nicht an." So beschreibt Harry Graf Kessler, der ein enger Vertrauter werden sollte, die Leiterin des Nietzsche-Archivs in Naumburg bei ihrer ersten Begegnung anno 1895. Zwei Jahre später zieht sie samt Bruder und Archiv nach Weimar, lässt nach dem Tod von Friedrich Nietzsche das Haus von dem Jugendstil-Architekten Henry Van de Velde umbauen. Sie schreibt eine dreibändige Biografie ihres Bruders, leitet das Archiv und die verschiedenen Buchausgaben. Trotz vieler finanzieller Probleme und unzähliger juristischer Fehden gelingt es ihr immer wieder, Mäzene für das Archiv zu interessieren und seine Existenz zu sichern. Bis sich in den 1930er-Jahren Adolf Hitler selbst des Archivs annimmt.

Elisabeth Förster-Nietzsche hat bis heute in der deutschen Kulturwelt einen denkbar schlechten Ruf. Betrügerin und Fälscherin sei sie. Ihr Bruder bezeichnete sie in einer Hass-Phase als eine "rachsüchtige antisemitische Gans". Aber wer war sie wirklich? Die Journalistin und Autorin Kerstin Decker versucht in einer umfangreichen Biografie, Elisabeth Förster-Nietzsche Gerechtigkeit angedeihen zu lassen und sie als eigenständige Größe darzustellen. Die kleine dumme Schwester aus den Schatten des Genies treten zu lassen.

Die Schwester als Person. Kerstin Decker schreibt geistreich und charmant. Das dickleibige Werk mit fast 700 Seiten ist amüsant zu lesen, liefert scharfsinnige Betrachtungen zu Nietzsches ver-rückter Welt, poetische Schilderungen von Gegebenheiten aus Elisabeths Umfeld, detailreich und ausschweifend. Immer wieder Friedrich Nietzsche, immer wieder auch die Mutter Franziska Nietzsche. Aber in diesem Kosmos gelingt es der Schwester nie, in den Mittelpunkt zu treten. Sie bleibt die immerwährende Schwester. Nicht als die böse, aber auch als durchschnittliche Frau nicht mehr als eben die Schwester. In ihrer ganzen Biografie bleibt die Protagonistin ein seltsam flüchtiges vages Wesen.

"Meines Bruders Ziel", schreibt Elisabeth an ihren Ehemann, "ist nicht mein Ziel, seine ganze Philosophie geht mir sozusagen wider den Strich, es sträubt sich etwas in mir dagegen." Später schreibt sie in einem Brief an den Herausgeber Köselitz über ihr Lebensziel: "Ein Leben zu führen in welchem Ideale und Handlungen sich in vollkommener Harmonie befinden, ein Leben ohne Compromiß, voller Wahrhaftigkeit Menschenliebe nützlicher Arbeit und Religiosität." Ob diese Selbstdarstellung die Wirklichkeit trifft, bleibt offen. Elisabeths Erfolg liegt zweifelsohne darin, sich gegen ihre Erziehung, gegen das bürgerliche Frauenideal, gegen ihre Mutter und letztendlich auch gegen ihren Bruder als eigenständige Persönlichkeit zu erschaffen. Sie hatte es nicht leicht, als Frau in einer Männerwelt zu bestehen. Gleichzeitig war sie willens, sich allen politischen Gegebenheiten anzupassen. Ganz pragmatisch. Sie war wohl eine sehr unideologische Person, eine Praktikerin, keine Ideologin. Verheiratet mit einem aktiven Antisemiten, pflegte sie später eine tiefe Freundschaft mit einem jüdisch-schwedischen Bankier. Sie trickste gelegentlich, verniedlichte und vertusche, mischte sich ein, war machtbewusst, und sie war eine Frau. Genug, um sie in der deutschen Kulturgeschichte zu der Inkarnation der bösen Schwester abzustempeln.

Wer war sie also? Sie war kein Monster, kein Genie, sie war Durchschnitt, wie die Autorin befindet. Und sie war tüchtig, in allen Facetten von Tüchtigkeit. Durchsetzungsstark, energiegeladen, mit starkem eigenen Willen und von einem Optimismus beseelt, der sie nie aufgeben ließ. Dass sie es als Frau in einer Männerwelt und insbesondere unter den frauenfeindlichen Nietzscheanern besonders schwer hatte, kommt noch hinzu.

Die Beziehung der Geschwister hat eine wechselvolle Geschichte. Sie ist geprägt von Liebe und Abneigung, von Machtkämpfen. Sie war unerschrocken, mutig, entscheidungsfreudig. Und sie hatte eine Mission. Ihren Bruder. Ihr Ziel war es, sein Leben und Werk nur in hellstem Licht erstrahlen zu lassen und ihm einen Platz in der Ewigkeit zu sichern. Wahrscheinlich störte es sie nicht, selbst als die ewige Schwester in die Geschichte einzugehen.

(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 12/2016)


Kerstin Decker: "Die Schwester. Das Leben der Elisabeth Förster-Nietzsche"
Berlin Verlag, 2016. 656 Seiten.
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