Sabine Gruber: "Daldossi oder Das Leben des Augenblicks"


Große Themen verquickt und verarbeitet Sabine Gruber in ihrem dieses Jahr erschienenen Roman "Daldossi oder Das Leben des Augenblicks": den Dauerbrenner Beziehungsprobleme, die Konflikte und Unstimmigkeiten zwischen Mann und Frau in der heutigen Zeit (in der Variante "alle berufstätig, keine Kinder"), und die weit weniger allgemeine Welt der Kriegsberichterstattung, wofür Sabine Gruber indes große Recherchemühen in Kauf genommen, sogar eine Ausbildung der deutschen Bundeswehr zum Einsatz von Reportern in Kriegsgebieten absolviert hat.

Im Zentrum stehen zwei ehemalige Paare, denn die Frauen haben gleich zu Beginn des Romans gerade ihre Männer, beide in engverwandten Berufen tätig, Kriegsfotograf der eine, Kriegsreporter der andere, verlassen. Im Zug der spärlichen äußeren Handlung wiederum scheint sich zwischen der Ex des Journalisten, Johanna, und dem verlassenen Fotografen, Bruno Daldossi, schön langsam etwas (Neues?) anzubahnen, er reist ihr, die beruflich in Lampedusa weilt, nach. Fotograf statt Reporter klingt nicht gerade nach der großen Innovation, jedoch ist zu berücksichtigen, dass sich die vier Hauptpersonen allesamt teils deutlich jenseits der Fünfzig befinden, im übrigen wird Bruno als viel feinfühliger als sein schreibender Kollege Henrik gezeichnet, Alkoholismus scheint seine einzige größere Schwäche zu sein. Im Rückblick Johannas und Brunos (die bevorzugte Art Grubers, über diese Dinge zu schreiben - viel in der Vorvergangenheit) erfahren wir freilich einiges über die Jahre und Jahrzehnte zuvor, nicht nur das partnerschaftliche Leben, auch andere persönliche Elemente wie der Tod der Mutter oder Kindheitserinnerungen finden hier einen Platz, genug, ein tieferes Psychogramm der beiden zu entwerfen. Das Scheitern ihrer alten Beziehungen wird mehr als ein durch den letzten Tropfen zum Bersten gebrachtes Fass voll Routinen, unliebsamen Vorfällen, Verletzungen, Vorsätzen, Unterlassungen, Unvereinbar- und Unverständlichkeiten dargestellt. So sehr dies dem Leben selbst entnommen ist und so treffsicher Sabine Gruber die richtige Sprache hierfür findet, eine sich eher passiv gegen "die Aufdringlichkeit der Welt" zur Wehr setzende, mit kommentarlos wiedergegebenen Dialogen und viel Vorvergangenheit gehörige Distanz zu ihrem Stoff wahrende, ist doch eine gewisse Gynäkozentrik nicht zu übersehen: die Perspektive Johannas wirkt insgesamt überzeugender als die der männlichen Titelfigur, die Mängel werden recht einseitig beim Mann gesehen, dass die Frauen gegenüber den unliebsamen Seiten ihrer Partner möglicherweise zu duldsam (besonders Johanna, die von Henrik, ihrem Ex, der sich benimmt, "als hätte er durch seine Kriegserfahrungen und Reportageerlebnisse ein Dauersprechrecht", mehr oder weniger wie ein Accessoire behandelt wurde) agiert haben, bestenfalls angedeutet bzw sehr indirekt gezeigt. Andererseits, wie bewusst auch immer weibliche Naivität an der Stelle eingesetzt wird, wo Brunos Ex (Marlis) ihm vorwirft, er reagiere auf die mögliche Trennung mit Gleichgültigkeit, und seiner Antwort, er habe sich dieses Verhalten antrainiert, um in Krisensituationen im Kriegsgebiet nicht überhastet zu reagieren, Glauben schenkt - hier fügt es sich als gute, stimmige Literatur.

Ein weiteres großes Thema ist die Manipulation der Wirklichkeit durch die Medien, insbesondere bei der Vorstellung von Krieg und Elend. Gruber geht gleichsam pointilistisch vor, zeigt mit ihrem gut recherchierten und sortierten Material die unterschiedlichsten Aspekte kurz auf und flicht sie (oft recht lose, etwa durch Gespräche im Wirtshaus oder mit Flugpassagieren und nicht zuletzt durch den reichen Erinnerungsschatz der beiden Frontmänner) in die Handlung ein. Die Fragwürdigkeit von Bildern an sich wird thematisiert, gänzliche Manipulation, das Zustandekommen manch berühmt gewordener Fotografien ("ein einziges gelungenes Bild, der richtige Titel zur richtigen Zeit", und man ist ein großer Name seiner Zunft) oder ein italienischer Fotograf, der in einem Projekt aufzeigte, "wie harmlos Aufnahmen wirken konnten, wenn man einen Schritt zurücktrat und den Photographen mit aufs Bild nahm". Von "Kriegspornographie", "billigen Mitleidsproduzenten", "Opfer-Profiteuren" und "selbsternannten Empathie-Experten" ist ebenso die Rede wie von Idealismus, Mitmenschlichkeit, dem Elend der Bootsflüchtlinge, den Zuständen in Lampedusa oder davon, einem Verstorbenen mit dem Foto seines verstümmelten Leibes Geschichte und dadurch Würde zurückzugeben. Letzteres klingt schon sehr nach bemühter Rechtfertigung, und tatsächlich hängt es stark vom jeweiligen Zusammenhang ab, ob bzw inwieweit Kritik und Bezeichnung zutreffen, diesen Punkt arbeitet der Roman mit seinen unterschiedlichen Beleuchtungen und Perspektiven gut heraus.

"Keiner bleibt unversehrt".

Dritter Themenbereich, wenn auch mit dem medialen eng verknüpft: die Furchtbarkeit des Krieges, nicht nur für diejenigen, die mit ihm direkt in Berührung kommen, Zivilbevölkerung und Militär, sondern ebenso, die von ihm leben, indem sie ihn in Wort und Bild festhalten, ferner für die daheimgebliebenen Frauen (oder im seltenen Fall Männer) der Kriegsteilnehmer, die Betrachter von Frontfotos, Zuschauer von Nachrichtensendungen, Zeitungsleser, der Schluss liegt nahe, für so ziemlich alle. Im Vordergrund steht freilich der Kriegsfotograf, ein Mann nicht ohne Mut und Sensibilität, dem nun die Trennung von Marlis, seiner Oase, wohin er sich immer zurückziehen konnte, zu schaffen macht. "Du bist immer weniger geworden. Etwas von dir ist an den Schreckensorten zurückgeblieben.", hat sie ihm noch mitgeteilt und es scheint, als kenne sie ihn gut. In diesem Zustand lässt Bruno wichtige Vorkommnisse seines Lebens Revue passieren, wirft bei der Betrachtung seiner Berufserfahrungen die verschiedensten Gesichtspunkte auf, ohne sich allerdings selbst zu allgemeineren Bereichen zu äußern oder eine klare Stellung zu beziehen. Bilder des Kriegsgrauens sind in dem Roman beileibe genug vorhanden, Opfer von Bomben, Minen und "Soldaten, die ihre Wut über die eigene Angst bis zur vollständigen Zerstörung des Gegners auslebten" (als minimalistisches Beispiel für Kriegsgrauenschilderung sei hier der langjährige Soldat Grimmelshausen erwähnt, der in seinem vielhundertseitigen "Simplicissimus" eine einzige kurze, an Deutlichkeit jedoch nichts vermissen lassende Schlachtenszene beschreibt), auch Bilder der Schande gibt es ein paar (z. B. die sich vor den Augen der Besatzungssoldaten abgespielt habende Plünderung des irakischen Nationalmuseums durch Reporter), die politische und wirtschaftliche Dimension (inklusive, um auch auf diesen Bereich zurückzukommen, Eigentumsverhältnisse bei den Medien) wird nur sehr am Rand berührt, verständlich, da der Grubersche Pointilismus in diesem Bereich besonders heikel, da leicht als parteiisch zu deuten oder sich als allzu gegenwartsbezogen herausstellend erscheinen kann, umso bedauerlicher allerdings, als leidenschaftliche oder gewohnheitsmäßig-alkoholische Diskussionen über die derzeitigen Vorgaben des Auftraggebers, die weltpolitische Lage und den eigenen Beruf im Wandel der Zeiten gut in das Milieu gepasst hätten, vor allem aber, als die Medienmoral wie kaum etwas sonst auf den Nerv unseres kollektiven Geisteslebens einwirkt. Die allzu überschwängliche Aufnahme des in der Tat wichtigen Romans in den diesbezüglichen Medien deutet darauf hin, dass in dem Lob für die gekonnte, unerschrockene Behandlung der heißen Eisen auch ein Quäntchen Ablasshandel enthalten war.  

(fritz; 11/2016)


Sabine Gruber: "Daldossi oder Das Leben des Augenblicks"
C.H. Beck, 2016. 315 Seiten.
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