Bachtyar Ali: "Der letzte Granatapfel"


Der 1960 in Slemani im Nordirak geborene, seit Mitte der neunziger Jahre in Deutschland lebende Bachtyar Ali ist einer der bekanntesten Schriftsteller seines Landes und trägt in seinen Romanen, Erzählungen, Essays und Gedichten seinen Teil dazu bei, das Kurdische (in der Variante Sorani) als Literatursprache zu etablieren.

"Auch wenn ein Krieg gegen das Böse, für die Gerechtigkeit geführt wird, füllt er am Ende die Welt mit neuem Schmerz."

"Der letzte Granatapfel" handelt von den Folgen des Krieges und der Unterdrückung in der irakischen Provinz Kurdistan. Immer wieder wird auf angebliche historische Ereignisse verwiesen, wir hören von der großen Flucht, vom dritten Bürgerkrieg, dem kurdischen Kampf gegen das Regime oder der Zeit des Aufstandes; ob es sich beispielsweise bei letzterem um den kurdischen Aufstand gegen Saddam Hussein 1991 handelt, erfahren wir jedoch nicht, wie das Buch überhaupt jenseits der historischen eine tiefergehende Wirklichkeit zu beschreiben versucht.

Einundzwanzig Jahre verbrachte der in der ersten Person erzählende Muzafari Subhdam im Gefängnis, einzig über die das Gebäude umgebende Wüste mit der Welt kommunizierend, sich bei all dieser Trostlosigkeit eine tiefere, weitere Wahrnehmung aneignend. Nach dieser langen Zeit unversehens entkerkert, findet er sich in einem Schloss und in Gesellschaft seines ehemaligen Peschmerga-Anführers und alten Freundes Jakobi Snauber wieder. Mit diesem begegnet uns einer der neuen Männer der Macht, der kämpfte und tötete, nach allen Wirrungen der letzten gut zwei Jahrzehnte, die ganze Städte ausgelöscht und einen völligen politischen Umbruch gebracht haben, siegte, doch nun, innerlich deformiert, die Früchte seiner neuen Stellung nicht oder nur sehr oberflächlich genießen kann. Der große Mann würde Muzafari gern im Schloss behalten als einen Hort der Reinheit, als Quell angeregter, sich weit über die Niederungen der Politik erhebender, erquickender Gespräche.

Muzafari freilich hat anderes im Sinn. Sein Bestreben geht dahin, seinen einundzwanzigjährigen Sohn Saryasi zu finden oder zumindest - Jakobi bescheidet ihm nämlich, dieser sei tot - sein Grab. Die Suche bringt ihn auf einen weiteren Saryasi Subhdam (bei diesem seltenen Namen sehr überraschend), welcher, der Merkwürdigkeiten nicht genug, im Besitz ebensoeines gläsernen Granatapfels ist wie der andere, sie führt ihn durch ein Land, wo die Menschen an den Folgen des Krieges leiden, aber auch zu Hoffnung Anlass geben, um schließlich (die ganze Geschichte wird Mitreisenden auf einem Flüchtlingsschiff erzählt) eines ihm anvertrauten Kriegsversehrten wegen auf England zuzusteuern.

Bachtyar Ali schreibt über Kriegs- und Verelendungsopfer verschiedenster Art, "die Geschichte aller Menschen, die hilflos in die Wirbelstürme dieser Region geraten", über Waisenkinder, die in den Straßen der großen Städte (die Landflucht offenbar ein gravierendes Problem in Kurdistan) Wasser oder Tomaten anbietend täglich um ihr Überleben kämpfen müssen und ständig Gefahr laufen, von der Polizei verprügelt oder vertrieben zu werden, von "Kohlekindern", durch chemische Bomben entsetzlich entstellte Wesen, die in entsprechenden Anstalten den Blicken ihrer Mitmenschen entzogen dahinvegetieren müssen, und nicht zuletzt von den Verheerungen innerhalb der Menschenherzen - etwa ein Sechstel des Romans umfasst der Erfahrungsbericht eines früh unter Waffen und zum Handwerk des Tötens gekommenen Jungen.

Bachtyar Ali mildert diese brutale, unbarmherzige Welt mit einer ideellen, verleiht seiner Geschichte und den wichtigsten ihrer Personen stark märchenhafte Züge. Ein paar der weiteren wichtigen Personen: Ikrami Keu, ein großer, starker Mann, den nicht die Macht, sondern aufopfernde Hilfsbereitschaft beseelt, Mohamadi, genannt Glasherz, ein edler junger Mann aus der Oberschicht, Reinheitsfanatiker, leidenschaftlicher Wahrheitssucher und Rätsellöser, der als erstes auf die Spur des Geheimnisses seines Freundes Saryasi stößt, die weißen Schwestern, vierzehn und fünfzehn Jahre alt, die sich vor den Wirren der ständig Veränderungen bringenden Zeit nicht anders zu helfen wissen als mit einem radikalen Schwur (entsprechend häufig wird in dem Roman geschworen): einander nicht zu verlassen, nie zu heiraten, sich die Haare nicht mehr zu schneiden, Nadimi Shazadeh, ein blinder Junge, dem sein verstorbener Vater den Rat gab, einen bestimmten Granatapfelbaum aufzusuchen und dort um sein Augenlicht zu bitten.

Die Stelle mit dem letzten Granatapfelbaum (es gibt auch andere solche Bäume in dem Buch) ist denn auch die zentrale des ganzen hochsymbolischen und allegorischen (z. B. die Suche nach dem einen Sohn, die von immer allgemeinerer Art zu werden beginnt) Romans. Der Welt letzter Granatapfelbaum steht einsam auf einer Bergspitze mit wunderschöner Aussicht, wo unsere Welt endet und Gottes Regionen beginnen. "Ein Ort, der ein seltsames grenzenloses Gefühl von Abschluss und Neubeginn in einem hervorruft. Dieser Granatapfelbaum ist auf dem Boden zweier Königreiche gewachsen: dem Reich der Realität und dem Reich der Träume."

Viel wird unter diesem Baum gebetet, geschworen, geträumt. Bachtyar Ali, der mit seinem Roman nicht zuletzt auf die Jugend des Landes sensibilisierend einwirken möchte, vor falschen Posen der Männlichkeit, Unerbittlichkeit und Zuflucht zur Gewalt warnt und nachahmenswerte Gegenbeispiele entwirft, fügt dem seinen eigenen Traum hinzu, den "Traum, dass die Menschen, ob Brüder oder Feinde, füreinander Verständnis haben mögen". Mögen diesem poetischen, pazifistischen Buch zahlreiche Leser im Orient wie bei uns beschieden sein.

(fritz; 07/2016)


Bachtyar Ali: "Der letzte Granatapfel"
(Originaltitel "Dwahamin Hanari Dunya")
Aus dem Kurdischen (Sorani) von Ute Cantera-Lang und Rawezh Salim.
Unionsverlag, 2016. 352 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen