Simon Hall: "1956"

Welt im Aufstand


Entscheidende Momente. Das Jahr 1956 im Blickpunkt.

Voll Optimismus zeigt sich noch zu Beginn des Jahres 1956 Reverend Martin Luther King jr. in seiner ersten Predigt. Der Kampf gegen die Rassentrennung in den Stadtbussen einer US-amerikanischen Kleinstadt in Alabama geht in den zweiten Monat, und King versprüht Zuversicht: "Sorgt euch nicht wegen der Rassentrennung. Sie wird verschwinden, weil sie Gott gegen sich hat." Einen Monat später wird ein Sprengstoffanschlag auf Kings Wohnhaus verübt, aber zu Jahresende gibt es "integrierte" Busse. Zweifelsohne ein wichtiger Meilenstein im Kampf um die Bürgerrechte, vielleicht aber sogar eine Zäsur im globalen Freiheitskampf?

Simon Hall, Historiker an der University of Leeds und Autor dieses historisch-politischen Jahresrückblicks, versucht, 1956 zu einem Revolutionsjahr, das die Welt veränderte, zu machen. Er lässt die Ereignisse des Jahres chronologisch Revue passieren, setzt einen Puzzlestein neben den anderen, oftmals mit fiktiven Erzählmomenten verschönert, und erklärt es zu einem Gesamtbild. Unruhen und Aufstände auszumachen, ist nicht schwer. 1956 ist ein turbulentes Jahr, mitten im Kalten Krieg und inmitten der großen historischen Bewegungen des Antikolonialismus, des Antirassismus und der Freiheit. Rund zehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg gärt und brodelt an allen Ecken und Enden. Die alten großen Kolonialmächte England und Frankreich werden von den Unabhängigkeitsbestrebungen ihrer Kolonien bedrängt, die neuen großen Mächte wie die USA und die Sowjetunion von inneren Spannungen herausgefordert.

Der Blick auf die Konflikte und Kriege von 1956 ist für das Nachkriegseuropa besonders lehrreich. Denn hier sind die 1950er-Jahre kein Symbol für Revolution und Aufstand, im Gegenteil, sie stehen für Frieden, wirtschaftlichen Aufschwung und auch kleinbürgerliche Enge, gleichsam als ein Versuch, den normativen Idealzustand vor den großen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts wiederherzustellen. Da waren die antikolonialistischen Befreiungskriege wohl weit weg, gestalteten aber die ganze Welt grundlegend um. Die alten Kolonialmächte befanden sich alle auf dem Rückzug. Auf dem Höhepunkt seiner Macht umfasste das britische Empire ein Viertel der Erdoberfläche. Zwei Jahrzehnte nach dem Sieg über NS-Deutschland war all das praktisch verschwunden. Die Zeit des Kolonialismus war abgelaufen. Die neuen führenden Supermächte USA und Sowjetunion waren genauso antikolonial eingestellt wie die erstarkten Vereinten Nationen. Der Aufstieg des antikolonialen Nationalismus brachte nun die Wende. Das Jahr hatte mit der Gewährung der formalen Unabhängigkeit für den Sudan begonnen. Marokko und Tunesien wurden ebenfalls 1956 unabhängig, Algerien allerdings versank in einem grausam geführten Unabhängigkeitskrieg. Als die britische westafrikanische Kolonie Goldküste sich ihre Unabhängigkeit erkämpfte, wählte sie den Namen Ghana für den neuen Staat. Er erinnerte an das große mittelalterliche Reich Westafrika und sollte eine neue Generation von Afrikanern inspirieren. Nkrumah formulierte nun die Hoffnungen der Antikolonialismusbewegungen und das Credo einer neuen Zeit: "Die alten Vorstellungen von Imperien, Eroberungen, Herrschaft und Ausbeutung sterben in einer erwachenden Welt schnell aus." Die Flüchtigkeit des erhofften Friedens war noch nicht zu sehen.

Stück für Stück und Monat für Monat arbeitet der Autor die Krisenherde ab. Die Bürgerrechtsbewegung in den USA, die Entstalinisierung in der Sowjetunion, der antikoloniale Krieg in Algerien, Aufstände in Osteuropa, die Suez-Krise, der Anti-Apartheidkampf in Südafrika, all das ist 1956. Die Idee, all diese Konflikte als Puzzleteile eines größeren Ganzen darzustellen, liegt nahe. Leider verzichtet der Autor darauf, sie zu einem Bild zusammenzufügen, und von alleine tun sie es auch nicht. Die Teilchen bleiben nebeneinander liegen.
Simon Hall beendet sein Buch, wie er es begonnen hat: mit Worten von Martin Luther King. Dessen Resümee im Rückblick von 1956: "Die Bemühungen um Unabhängigkeit in Afrika, Ungarns Todeskampf gegen den Kommunismus und das entschiedene Drängen der amerikanischen Schwarzen als Bürger erster Klasse anerkannt zu werden, sind untrennbar miteinander verbunden."
Ebenso sieht es auch Simon Hall, aber den analytischen Beweis bleibt er leider schuldig.

(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 03/2016)


Simon Hall: "1956. Welt im Aufstand"
(Originaltitel "1956. The World in Revolt")
Aus dem Englischen von Susanne Held.
Klett-Cotta, 2016. 479 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Digitalbuch bei amazon.de bestellen

Simon Hall studierte Amerikanische Geschichte an der University of Sheffield und wurde an der University of Cambridge promoviert. Seit 2003 lehrt er als "Senior Lecturer in American History" an der University of Leeds. Er hat sich in seinen Forschungen und früheren Publikationen insbesondere mit den Freiheits- und Bürgerrechtsbewegungen in den USA auseinandergesetzt.