Karl Ove Knausgård: "Träumen"


Die Geburtswehen des Schriftstellers - narzisstische Selbstdarstellungsprosa oder doch geniale Literatur?

"Träumen" ist der fünfte Teil des in sechs Teilen episch angelegten autobiografischen Romanzyklus, der mittlerweile richtigen Kultstatus erreicht hat. Die bisher erschienenen Bände sind bereits in über dreißig Sprachen übersetzt, und die Leserschaft wartet überall gespannt auf den nächsten Teil.

Nach dem ersten Teil "Sterben", in dem Knausgård auf bittere und erlösende Art und Weise mit dem soeben verstorbenen Vater abrechnet, folgte "Lieben", eine selbstzerfleischende Auseinandersetzung des Autors mit sich selbst in den Rollen Ehemann und Vater. Im dritten Teil "Spielen" ging Karl Ove Knausgård dann allerdings wieder ganz an den Anfang zurück. Der vierte Band "Leben" befasste sich mit Knausgårds Zeit nach der Schule.

Im Jahr 1988 kommt der neunzehnjährige Student Karl Ove Knausgård nach Bergen, wo er an der hochangesehenen Akademie für Schreibkunst aufgenommen worden ist. Dass er viel ist jünger als die anderen Studenten, die dank ihrer Reife stärkere literarische Texte hervorbringen, verstärkt seinen Drang, unbedingt außergewöhnlich zu sein, denn das muss er wohl sein, wenn er an dieser Akademie einen Platz ergattern kann. Dass das zu einer Schaffensblockade führt, ist wohl keine Überraschung.

Ablenkung vom Frust findet er bei Sauftouren mit seinem Bruder Yngve, dem er sich grundsätzlich auch unterlegen fühlt. Er hat zudem eine Gruppe von Freunden, die ihm allerdings auch immer diffus fremd vorkommen, weil er in ihrer Gegenwart nie lachen kann. Seine einzige Antwort auf diverse Unzulänglichkeiten ist der dieses Gefühl zumindest kurzzeitig ausschließende Alkohol.

Wie erwartet, löst der Alkohol keine Probleme. Im Gegenteil, er führt dazu, dass Karl Ove sich teilweise bis zur Bewusstlosigkeit betrinkt, Sachbeschädigung und Diebstahl begeht, häufig Sex für eine Nacht hat und sich meistens an fast gar nichts oder nur wenig erinnern kann. Auch eine Freundin findet er, mit der er eine vermeintlich normale Beziehung führt, in der man über Kinder redet, die Zukunft plant und ein geregeltes Sexualleben hat.

Nichtsdestotrotz fühlt sich Karl Ove nie dazugehörig. Seine Welt spielt sich außerhalb einer Art von Schutzschild ab, welches er weder durchdringen kann, noch will. Natürlich hat er auch sich selbst nicht im Griff, denn er weiß, er kann sich auf gar nichts verlassen, weil er im alkoholisierten Zustand zu Sachen fähig ist, die er von sich nicht erwartet. Irgendwie ist seine passive Teilnahmslosigkeit symptomatisch für die selbstzerstörerischen Alkoholexzesse.

Neben seinem Literaturstudium studiert er noch Kunstgeschichte, schreibt Rezensionen, spielt in einer Musikgruppe und verdient sich sein Geld in einem Heim für geistig Behinderte und in einer Psychiatrie, geht mit Gunvar sogar eine Zeit nach Island, kommt aber bei dem, was er wirklich will, nicht vom Fleck. Die Beziehung geht in die Brüche, und eine neue folgt; eine Beziehung, die ihn erstmals über Heirat nachdenken lässt. Er macht seiner neuen Freundin auch einen Heiratsantrag, der angenommen wird. Da er zum Schreiben aber allein sein muss, tun sich auch hier bald Probleme und Abgründe auf.

Wie bereits in den vorhergegangenen Teilen deckt Knausgård schonungslos auf, scheut keine Peinlichkeit, von Onanie bis zur Untreue im Suff; er zeigt sich streckenweise von einer Seite, die fast nur als unsympathisch bezeichnet werden kann. In dieser Offenheit entdeckt man aber auch, dass das, was Knausgård hier beschreibt, bei ehrlicher Betrachtung nur zutiefst menschlich ist. Vieles von dem, was er durchlebt, könnte man auch in der eigenen Biografie finden, ließe man seiner Erinnerung freien, unzensierten Lauf.

Dieses schonungslose Sezieren seines Innenlebens hat einerseits natürlich mit narzisstischer Selbstbeschauung zu tun, die allerdings ein unverzichtbarer Bestandteil des künstlerischen Schaffensprozesses ist. In keinem Gebiet der Kunst wäre ohne eine Portion Narzissmus ein großes Kunstwerk geschaffen worden. Knausgårds Konsequenz, stur offenzulegen, was normalerweise privat bleibt, führt hier, auch dank seiner geradlinigen und immer den Weg nach Erkenntnis suchenden Prosa, die von Paul Berf blendend ins Deutsche übersetzt worden ist, dazu, dass man kein Tagebuch eines narzisstischen Möchtegernwichtigtuers liest, sondern ein existenzialistisches Opus Magnum eines ganz großen Schriftstellers, der einfach mindestens dreitausend Seiten braucht, um mit sich einerseits und mit seiner Rolle in dieser Gesellschaft andererseits reinen Tisch zu machen. Diesem Prozess folgt man gespannt und aufmerksam, lernt dazu und hat immer wieder das Gefühl, dass Knausgård Dinge zu Tage fördert, die man selbst so gerne formuliert und erkannt hätte.

Und das ist eindeutig wirklich große Literatur. Absolute Empfehlung.

(Roland Freisitzer; 11/2015)


Karl Ove Knausgård: "Träumen"
(Originaltitel "Min Kamp V")
Aus dem Norwegischen von Paul Berf.
Luchterhand Literaturverlag, 2015. 794 Seiten.
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