Marcel Möring: "Im Wald"


Im Labyrinth der Erinnerungen

Marcel Mörings spannender und dichter Roman "Im Wald" beginnt rückblickend mit der Erzählung des Umzugs in das Haus im Wald, in welches der mit einem Roman erfolgreiche und reich gewordene Schriftsteller Marcus Kolpa mit seiner zu dem Zeitpunkt fünfjährigen Tochter gezogen ist. Eingeigelt in der idyllischen Einöde, zieht er seine Tochter groß. Nach und nach erfährt der Leser die Hintergründe dieser inneren Emigration des Autors, der seit dem Roman nichts Anderes als Skizzen, Fragmente, Notizen und vermeintlich unzusammenhängende Texte fabriziert hat, die in seinen Schubladen vermodern.

"Erinnerungen sind der Staub in den Kleidern des Reisenden, sein verschmiertes Gesicht, die Gerüche, die sich in den Falten seines Mantels festgesetzt haben. Genauso wie Odysseus mit leeren Händen und unkenntlich nach langer Abwesenheit zurückgekehrt und an seiner Narbe erkannt wird, weil diese Narbe eine Bedeutung in der Erinnerung seiner Amme hat, so werden wir an den Spuren erkannt, die das Leben an und in uns hinterlassen hat."

Der Roman ist in fünf Teile unterteilt, welche mit Überschriften versehen sind, die jeweils als die erzählerische Motivation des aus der Ich-Perspektive erzählten Romans verstanden werden können. "Glaubst du, dass du bist, wo du sein willst?", "Gib mir nun endlich, was ich immer schon hatte", "Dort, hinter den Bergen, in einem Land, das keiner kennt", "Wohin gehen wir?" und "Mitten in der Nacht, in einem dunklen Wald".

Vor dem Trubel der Welt in die Rolle des glücklichen Eremiten geflüchtet, begreift er seine Einsamkeit erst wirklich, nachdem seine Tochter als bereits erwachsene junge Frau das Haus verlassen hat. Die Aufarbeitung des Verschwindens seiner Frau Chaja, vor allem die Frage, was damals, als die Tochter Rebecca drei Jahre alt war, passiert ist, beschäftigt ihn permanent. Wenn nicht gerade bewusst, dann schwingt diese Frage immer im Unterbewusstsein mit. Auch die Beschäftigung mit der Erkundigung nach dem Verkäufer des Hauses wirft immer weitere neue Facetten auf die Familiengeschichte von Marcus Kolpa, genauer gesagt, die seiner Mutter, einer Überlebenden des Holocausts. Marcel Möring verknüpft hier virtuos die verschiedenen Erzählstränge, die alle anscheinend das Verlassenwerden als Ausgangspunkt haben.

"Nach und nach begann sich einiges zu ändern. Ich ging nicht mehr ans Telefon, weil ich niemanden sprechen wollte, weil ich den Gedanken an menschlichen Kontakt nicht mehr ertrug. Ich begann, Eröffnungen, Feste, ja fast alle Formen von Kontakt zu meiden. Wenn ich an die Menschen dachte, die mir etwas bedeuteten - meine Mutter, die alten Freunde im Norden des Landes, die ich einmal im Jahr besuchte, die neuen Freunde, die ich in Amsterdam gefunden hatte -, dann empfand ich nichts."

Warum ist seine Mutter plötzlich aus unerklärlichen Gründen nach Israel ausgewandert, wo sie niemanden kannte? Wer war der vermögende Amerikaner, der ihr ein kleines Vermögen hinterließ, und den Marcus nicht kennt? In welcher Beziehung stand der zu seiner Mutter?  Über diesen Mr. Hollander lassen sich durch akribische Recherche zumindest ein paar Spuren finden, die nach New York führen. Wer ist der Vater von Marcus? Warum hat dieser die Mutter verlassen? Warum hat Marcus' Mutter nie sinnvolle Gespräche über ihn zugelassen? Warum ist Chaja, Marcus' Frau, plötzlich auf geheimnisvolle Art und Weise verschwunden? Welche Rolle spielte ihr Vater dabei? Lebt sie überhaupt noch? Wenn ja, warum hat sie Mann und Tochter verlassen, ohne Abschiedsnotiz, ohne Erklärung? Was hat sie mit dem Terroranschlag in der Nacht vor ihrem endgültigen Verschwinden zu tun?

Der Tod der Mutter zwingt Marcus Kolpa dann förmlich, aus seiner depressiv destruktiven Grübelei heraus aktiv zu werden. Er reist nach Israel, wo er überrascht feststellen muss, dass seine Mutter ganz und gar nicht der Mensch gewesen zu sein scheint, den er gekannt hat. Er erfährt, dass seine Mutter ihr Geld klug investiert hat und er wieder erben würde, ungefähr eine Million Dollar. Diese Erbschaft treibt ihn zur weiteren Forschung an, die ihn auf die Spuren Hollanders nach New York führt, wo er den Grundstein für ein mögliches späteres Liebesglück legt.

Als er durch eine zufällige Begegnung eine überraschende Spur zu Chaja findet, überschlagen sich die Ereignisse, über die der Rezensent bewusst nicht mehr verraten will.

Marcel Mörings sehr virtuos geschriebener Roman ist offensichtlich kongenial von Helga van Beuningen übersetzt, die dem niederländischen Autor eine sehr überzeugende deutsche Stimme gibt. Von grüblerischen gedankenstrommonologähnlichen Passagen, über spannend abwechslungsreiche Erzählpassagen, packende Tempowechsel, bis hin zu pfiffigen Dialogen; da sind alle Zutaten enthalten, die diesen Roman zu einer sehr befriedigenden Lektüre werden lassen, der man sogar das vielleicht etwas kitschige, doch überzeugende Finale nicht übel nimmt.

Sehr starke Empfehlung.

(Roland Freisitzer; 05/2014)


Marcel Möring: "Im Wald"
(Originaltitel "De Bezige Bij")
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen.
Luchterhand Literaturverlag, 2014. 509 Seiten.
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