Sabine M. Gruber: "Chorprobe"


Bei Sabine M. Grubers "Chorprobe" handelt es sich um ein großes Märchen für Erwachsene, das schon durch den heiter-barocken Tonfall seiner Untertitel (allesamt im Stil von "Cindy lernt singen und erlebt ein Wunder" gehalten) andeutet, es werde so enden, wie Märchen, wenn sie nicht gerade von Andersen stammen, üblicherweise enden. Cindy, eigentlich Lucinda, aber auch Cinderella genannt, ist die Hauptfigur und Heldin, in Wien wohnhafte Endzwanzigerin, als Sekretärin zu einem geringen Lohn für einen Rechtsanwalt arbeitend, durch eine "böse" Mutter (in modernen Zeiten bedarf es der Stiefbeziehung nicht, die eigene reicht vollständig) klein an Selbstbewusstsein, die dennoch ihre Sehnsucht und ihren Ehrgeiz nach Höherem, Künstlerischem nährt und trotz ihres geringen Verdiensts regelmäßig private Gesangsstunden nimmt. Am Ende des knappen Jahres, von dem in dem Buch erzählt wird (ihre Erlebnissen nebst ein wenig Innensicht), wird sie gereift, selbstbewusster und um vieles glücklicher erscheinen.

Das Böse wird in "Chorprobe" durch niemand anderen als den bösen Wolf repräsentiert. Wolf wird er genannt, eigentlich heißt er Wolfgang Gottlieb (wegen seiner überehrgeizigen Mutter, allerdings könnte die Hauptursache für Wolfs Fehlentwicklungen auch an seiner Zeit bei den Wiener Sängerknaben liegen), und er ist nicht nur angesehener Dirigent eines angesehenen gemischten Wiener Chores, des sogenannten "Chorus", sondern auch eine schwergestörte Persönlichkeit, der seine häufigen Missstimmungen wie selbstverständlich und vermutlich weitgehend unbewusst am Chor abreagiert und schon so manchen Sopran in Tränen hat ausbrechen lassen. Zugleich ist Wolf aber auch ein gewiefter Machtmensch, der seine Sänger in Abhängigkeit hält, indem er sie finanziell aushungert (wegen des Prestiges lassen sie es sich gefallen), die Proben sehr kurzfristig ansetzt oder absagt, was die meist auch anderen Beschäftigungen Nachgehenden vor ernste Probleme stellt, und wenn eine Person sich nicht für möglichst viele Konzerte anmeldet (die endgültige Auswahl der dann wirklich zur Aufführung Zugelassenen obliegt ausschließlich Wolf, die anderen im Vorstand sind Ja-Sager oder sonstwie von Wolf abhängig), findet er bald einen Grund, wegen irgendeiner Lappalie auf ihre künftigen Dienste zu verzichten. Besonders Frauen, die sich mit ihm auf eine Beziehung eingelassen haben, nehmen immer wieder ein tragisches Ende, und ausgerechnet die neue Sopranistin, diese Lucinda, fällt angeblich genau in sein Beuteschema. Somit erheben sich für alle Leser, die besonders mit der sympathischen, unerfahrenen Heldin mitleben, im Laufe des Buches Fragen wie diese: Frisst der Wolf Cindy, das Schaf, erstickt aber daran? Kann Cindy den Wolf zähmen? Fangen? Und taucht am Ende gar ein Prinz oder zumindest Jäger auf?

Die je etwa 10 Seiten umfassenden Kapitel geben denn auch darüber volle Auskunft. Gleichzeitig zeigen sie in Ausschnitten die verschiedensten Aspekte eines Chores, berichten von Chorproben, Aufführungen, Gastspielen  ebenso wie von den unvermeidlich dazugehörenden Chorinterna, von Gifteleien, Intrigen, regelrechten Spitzeldiensten, von leidenschaftlichen Diskussionen, Freundschaften und einem ersten, von einer Handvoll Frauen ausgehenden Nest des Widerstands, kurz, der "Chorus" wird als Mikrokosmos mit seinen eigenen Regeln, in dem sich akzentuiert größere (und in dem Fall ziemlich autoritäre) menschliche Gesellschaften widerspiegeln, beschrieben.

Nicht zuletzt geht es darum, was für eine wunderbare Kraft die Musik sein kann, für Zuhörer und Ausübende. Ohne ihre heilende Wirkung könnte ein System wie der "Chorus", dessen eigener Dirigent den Sängern immer wieder seelische Wunden zufügt und permanent an den Nerven zehrt, gar nicht funktionieren. Starken Trost spendet auch und zeigt dabei, wie man es besser macht, Viktor von Weiden, nicht berühmter, sondern sehr berühmter Dirigent, für dessen Aufführungen in Amsterdam, Seoul und sonstwo auf der Welt Wolf immer wieder sehr zu seinem Ingrimm die Choreinstudierung besorgen muss. Viktor begegnet seinen Musikern auf Augenhöhe, mit Empathie und Charme, und schafft so das Fundament für ein harmonisches gemeinschaftliches Klangerlebnis. Inhaltsreich sind seine Interpretationen, energiegeladen, Musiker wie Publikum gleichermaßen mitreißend, seine Arbeit am Dirigentenpult. Mit den beiden Dirigenten, in deren Darstellung auch manche Anekdote und Charakteristik tatsächlicher Dirigenten miteingeflossen ist, porträtiert die Autorin nicht nur Zunftkollegen von sehr unterschiedlicher Berufsauffassung, sondern zwei gegensätzliche Arten der Menschenführung allgemein. Die Begeisterungsfähigkeit teilt Sabine M. Gruber mit Viktor. In wenigen Worten macht sie anhand zahlreicher Stellen aus Musikstücken (allen voran von Joseph Haydn) deutlich, was sie daran so ergreift, und vermittelt einen überzeugenden Eindruck davon, was für eine schöne Sache klassischer Chorgesang sein kann.

Zwei abschließende Bitten:
Bitte als Österreicherin bei einem österreichischen Verlag Wörter wie "Abwasch" und "Eierspeise" und nicht nördlichere Synonyme, die von vielen nicht verstanden werden und so gar nicht lieblich klingen, verwenden!
Bitte mehr literarische Schmankerln wie die Katerszene zu Beginn!

(fritz; 08/2014)


Sabine M. Gruber: "Chorprobe"
Picus, 2014. 288 Seiten.
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