György Dalos: "Geschichte der Russlanddeutschen"

Von Katharina der Großen bis zur Gegenwart


Deutsche Migranten Russland und retour: "Dort waren wir Deutsche, hier sind wir Russen"
Zur 250-jährigen Geschichte der Russlanddeutschen


Damals, als im 18. Jahrhundert die ersten Deutschen nach Russland auswanderten, hießen sie noch nicht Migranten. Es waren Auswanderer auf der einen Seite  und Siedler auf der anderen. Rheinländer, Hessen, Bayern und Badener, die ihre vom Siebenjährigen Krieg verwüstete Heimat verließen. Sie gingen auf Einladung von Katharina II. nach Russland und siedelten sich an der unteren Wolga und im Schwarzmeergebiet an. Religionsfreiheit, Selbstverwaltung, Befreiung vom Militärdienst und Steuervorteile wurden ihnen versprochen und gewährt. Abgeworben von der Zarin, bestand ihre Aufgabe darin, vor allem siedlungsarme  Gebiete landwirtschaftlich zu kolonisieren. Ende des 19. Jahrhunderts registrierte eine Volkszählung 1,7 Millionen Russlanddeutsche. Es war aber auch der Zeitpunkt. als sie allmählich der Unbill der russischen Geschichte ausgesetzt wurden.

Diesen Spuren und ihrer wechselvollen Geschichte geht der in Berlin lebende ungarische Schriftsteller und Historiker György Dalos in diesem Buch nach. Seinem Arbeits- und Interessensschwerpunkt gemäß beschäftigte er sich schon mit der Geschichte Ungarns, mit Gorbatschow, dem Ende der Sowjetunion und nun mit den Russlanddeutschen, deren Geschichte in seiner Jugend im Ostblock noch "Verschlusssache" war. Mit dem neugierig-nüchternen Blick eines Wissenschaftlers rollt er Schritt für Schritt die Chronologie der Russlanddeutschen auf. Von der Welt der Kolonisten, über die Weltkriege, die Sowjetisierung, Deportation und Rehabilitation bis zur massenhaften Rückwanderung nach Deutschland. 250 Jahre deutsch-russische Geschichte.

Dalos weist darauf hin, dass diese Deutschen, die Katharinas Ruf folgten, ihrer Geschichte den Rücken kehrten und fortan Teil eines völlig anderen historischen Prozesses wurden. Alles, was nach  dem Siebenjährigen Krieg geschah, war nicht mehr Teil ihres kulturellen Erbes. Erst der Nationalsozialismus holte sie wieder ein, diesmal als verfolgte, weil feindliche Minderheit in der Sowjetunion. Ihre russische Geschichte selbst beinhaltete in erster Linie Despotie und Diktatur, einmal wohlwollend, dann wieder unterdrückend. Hundert Jahre nach ihrer Einwanderung wurden ihre Privilegien aufgehoben, im Ersten Weltkrieg erlebten sie antideutsche Pogrome, in der jungen Sowjetunion Hungerjahre. Ein zentrales Kapitel ist die Wolgadeutsche Republik, oder die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen, wie sie mit vollem Namen hieß. Sie bestand von 1918 zunächst als sowjetische Arbeitskommune und von1924 bis 1941 als Autonome Sozialistische Sowjetrepublik (ASSR) innerhalb der Sowjetunion. Als Hitler die Sowjetunion angriff, gerieten die  Deutschen Russlands unter Kollektivverdacht, verloren ihre Autonomie und wurden nach Sibirien und Zentralasien deportiert, ihre arbeitsfähigen Leute in Zwangsarbeitslager gesteckt. Die neue Faktenlage wurde auch nach dem Krieg beibehalten. Trotz Rehabilitation blieb ihnen eine Rückkehr in ihre ursprüngliche russische Heimat verwehrt.

Die Wiederherstellung der Wolgaautonomie als staatsähnliches Gebilde mit einer eigenen Verfassung, nationalen Symbolik und deutschsprachigen Institutionen blieb Illusion. Auch wenn lange Zeit Aktivisten versuchten, mit Bittschriften die offiziellen Institutionen zu einer positiven Entscheidung in Sachen Autonomie zu bewegen. Die Autonomie war ein zentrales Symbol russischdeutscher Identität, genauso wie die  Zwangsaussiedlungen und die Arbeitslager alles Leid, das ihnen in Russland als Sowjetunion widerfuhr, symbolisierten. Für einen historischen Augenblick erschien die Erneuerung der Wolgarepublik die Möglichkeit zu eröffnen, als Sowjetbürger deutscher Nationalität den Zugang zu Menschenrechten und Wohlstandschancen zu erhalten, ohne die Strapazen einer neuerlichen Auswanderung und die Unsicherheit des Neuanfangs in einer fremden Welt auf sich nehmen zu müssen. "Das war sicherlich eine falsche Morgendämmerung", wie der Autor bemerkt. In der Ära Gorbatschow endete dann auch die Zeit der Delegationen.

1989 schließlich klassifizierte der Oberste Sowjet die Repressalien gegen gewaltsam umgesiedelte Völker als "gesetzeswidrig und verbrecherisch", aber eine Wiederherstellung einer staatlichen Autonomie, wo auch immer, wurde dezidiert ausgeschlossen. So kehrte in den 1990er-Jahren  der größte Teil der Russlanddeutschen, rund zwei Millionen, als sogenannte Spätaussiedler nach Deutschland zurück. Damit wurde auch der Traum einer wiedergegründeten Wolgarepublik endgültig obsolet, und die falsche Morgendämmerung versank im Meer der Geschichte.

György Dalos schreibt nüchtern, sachlich, informativ, gut lesbar.  Damit legt er einen Grundstein für eine faktentreue und unideologische Geschichtsschreibung über die Russlanddeutschen, die viele erhellende Akzente auf die unendliche Geschichte von Kultur und Nation, von Nationalismus und Nationalitätenpolitik setzt. Angesichts der selbst im 21. Jahrhundert  sprießenden Unabhängigkeitsbestrebungen scheint ein deutsches staatliches Gebilde innerhalb von Russland tatsächlich eine etwas skurrile Idee  gewesen zu sein.

(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 10/2014)


György Dalos: "Geschichte der Russlanddeutschen.
Von Katharina der Großen bis zur Gegenwart"

C.H. Beck, 2014. 330 Seiten mit 25 Abbildungen.
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