Ulrich Ritzel: "Trotzkis Narr"


Wie schon in seinen früheren Romanen mit dem pensionierten ehemaligen Kommissar Hans Berndorf, der mit zunehmendem Alter, wie der Rezensent findet, Friedrich Anis Tabor Süden immer ähnlicher wird, legt der zu den besten Kriminalautoren Deutschlands zählende Ulrich Ritzel von der ersten Seite seines Romans an viele unterschiedliche und zunächst eher verwirrende Spuren.

Da ist ein gewisser Harlass, ein krimineller Lumpenproletarier mit Neigungen zur rechten Szene, der schon einmal einen Rabbi erschlagen wollte. Er soll im Auftrag von zwei dubiosen Männern mit nach Mafia aussehender Methode einen Mann verletzen, doch weil er so aufgeregt ist, tötet er ihn. Was hat das Opfer, der Staatsangestellte Marcks mit trotzkistischer Vergangenheit, mit den anderen Saunagängern zu tun, mit denen er sich jeden Freitag trifft? Welche Rolle spielt der Russe Rutzkow?
Da ist weiter die junge Journalistin Karen Andermatt. Sie ist liiert mit einem Mann, der gerade bei einer Agentur in Berlin eine steile Karriere hinlegt, und dessen Verbindungen lange im Dunkeln bleiben.

Es ist diese Karen Andermatt, die sich an den als Privatdetektiv arbeitenden Hans Berndorf wendet. Sie fühlt sich beschattet und hat ihren Mann im Verdacht, der Auftraggeber dieser Kontrolle zu sein. Berndorf beginnt mit seinen Recherchen und findet auch bald erste Hinweise darauf, dass der Chef von Karen Andermatts Mann dahinterstecken könnte.

Scheint die Figur von Karen Andermatt zu Beginn das klare Opfer, zeichnet Ulrich Ritzel sie in der Folge als eine Frau mit auch anderen, eher verdeckten Seiten, Motivationen und Handlungen. Berndorf gerät phasenweise in große Verwirrung, in die Ritzel den Leser geschickt mit hineinnimmt.

Als eine als gnadenlos geltende Staatanwältin, die für das Amt des Regierenden Bürgermeisters aufgebaut werden soll und die die Ermittlungen im Mordfall Marcks leitet, Karen Andermatt beauftragt, für sie ein journalistisches Porträt zu erstellen, und ein seltsames Dossier auftaucht (Flughafen BER?), scheint Berndorf ins Schwimmen zu geraten.
Doch mit seiner althergebrachten und aus vielen Vorgängerromanen bekannten Art und Weise der Ermittlung kommt Berndorf der Sache immer näher, und Ritzel lässt den lange durch verschiedene Stränge und Personen verwirrten Leser langsam wieder durchblicken. Nach Meinung des Rezensenten manches Mal zu leicht, findet er Zusammenhänge und fügt Fäden zusammen.
Der Kriminalroman "Trotzkis Narr" handelt nicht nur von raffgierigen Politikern in einer korrupten Berliner Verwaltung, sondern auch von übriggebliebenen aufrechten Trotzkisten und Polizisten mit einem sehr speziellen Berufsverständnis. Und er handelt von den ganz spezifischen "Berliner Zuständen", die Ulrich Ritzel sehr gut eingefangen hat.

Wie gesagt: Über Strecken droht sich der Roman in einer sehr komplizierten Handlung zu verheddern, doch der Leser wird am Ende für seine Geduld belohnt und staunt wieder einmal über die geniale Kombinationsfähigkeit eines Ermittlers vom alten Schlag.

(Winfried Stanzick; 12/2013)


Ulrich Ritzel: "Trotzkis Narr"
btb, 2013. 464 Seiten.
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