Norbert Gstrein: "Eine Ahnung vom Anfang"


Wie sehr kann man seiner Erinnerung trauen?

Norbert Gstrein geht in seinem Roman einen den Titel des Romans sehr genau nehmenden Weg. Der Leser hat auch wirklich eine Ahnung vom Anfang, der einen Lehrer in den Mittelpunkt stellt, der auf einem Fahndungsbild seinen ehemaligen Lieblingsschüler zu erkennen meint. Der junge Mann auf dem Fahndungsbild soll für eine Bombenlegung auf dem Bahnhof des Dorfes verantwortlich sein, sowie für vorhergegangene, mit biblischen Texten geschmückte Bombendrohungen.

Dieses mögliche Erkennen stürzt den Lehrer in Erinnerungen und Zweifel, durch die er versucht, herauszufinden, ob sein Einfluss den Schüler möglicherweise auf eine falsche, oder zumindest vermeintlich falsche Bahn gebracht hat. Subtil kreist Norbert Gstreins Erzählung um die gemeinsam verbrachte Zeit, die Buchempfehlungen, die Gespräche, den Selbstmord des Bruders des Lehrers, die unglückliche Verliebtheit des Jungen und die gemeinsam am Fluss verbrachten Sommer. Interessanterweise schafft es Norbert Gstrein, den Verlauf der eindringlichen Erzählung immer weiter von der Sicherheit der Kenntnis der Tatsachen weg zu manövrieren, sodass man, je mehr man weiß, in Wahrheit immer weniger über den eigentlichen Tatbestand weiß.

Zusätzlich lässt Norbert Gstrein zwei weitere Lehrerpersönlichkeiten zu, die ebenfalls ihren Einfluss auf den Schüler haben, den Religionslehrer der Schule und einen us-amerikanischen Sektenprediger, der sich in dem österreichischen Dorf (der Kleinstadt) niederlässt, um dem Ort näher zu sein, an dem sein Vater als junger Kriegspilot im Zweiten Weltkrieg bruchgelandet ist. Der Sektenprediger ist, mit Verlaub, die einzige wirkliche Schwachstelle in diesem überaus überzeugenden Roman, allzu klischeehaft und unglaubwürdig sind sowohl Familie des Predigers als auch seine Motivation. Allerdings ist das vermutlich ebenso die Intention des Autors in diesem Roman der Verschleierung, in dem alles, was man anfangs noch vermeint zu wissen, zusehends verschwimmt.

Eine gezwungen frühzeitig abgebrochene Israel-Reise des Jungen steht immer wieder im Zentrum der Erzählung. Über den Hintergrund des Reiseabbruchs erfährt der Leser auch nur Vermutungen und Mutmaßungen.

Alles, was man in diesem Roman wirklich genau zu wissen scheint, ist die Tatsache, dass Daniel während der Schulzeit ein überdurchschnittlich begabter, sinnsuchender Jugendlicher gewesen sein muss, der sich vom erzählenden Lehrer zumindest literarisch gewissermaßen inspirieren und leiten lässt, der sich für die Themen interessiert, die Jugendliche in seinem Alter generell faszinieren und der zusätzlich unglücklich verliebt ist.

Über die Linie des eher unglücklich verlaufenen Privatlebens des Lehrers mit gescheiterter Beziehung und Selbstmord des Bruders wird eine weitere Reflexionsebene hergestellt, die immer wieder neue Aussichten und Vermutungen erlaubt, welche die Frage der Schuld und Motivation Daniels ebenso wenig entschleiert, wie die weiteren Protagonisten dieses Romans. Dasselbe gilt für die diversen Anschuldigen, die dem Lehrer unterstellt werden, wie vermeintliche Homosexualität oder erfundene Wehrmachtsübungen mit Daniel.

Während der Erzähler am Anfang selbstbewusst feststellt, dass er seiner Erinnerung trauen kann, muss er später im Roman feststellen, dass er allen Grund hätte, an der Zuverlässigkeit seiner Erinnerung zu zweifeln. Das geht soweit, dass der Lehrer allen Möglichkeiten soweit zu misstrauen beginnt, dass er überlegt, ob nicht sogar er selbst für die Bombenlegung verantwortlich sein könnte. Als dann doch wirklich eine Bombe hochgeht und der Bombenleger dabei umkommt, wird der Lehrer zur Identifizierung des Toten gerufen. Die generelle Verschleierung ist zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits so fortgeschritten, dass sich in Wahrheit niemand mehr für die Aufklärung interessiert.

Norbert Gstrein schafft es in "Eine Ahnung vom Anfang" virtuos, eine Nichtgestalt als Hauptprotagonisten eines Romans fungieren zu lassen. Daniel, der eindeutige Mittelpunkt dieser Erzählung, ist nämlich eine solche, da er nie greifbar oder wirklich wird.

So wird der Leser, der klare Antworten sucht, diesen Roman am Ende zuklappen und frustriert und unglücklich über diese sprachlos machende Verweigerung des Autors sein. Wer keine klaren Antworten braucht, der wird mit diesem wunderbaren Romankunstwerk viel Freude haben.

Absolute Empfehlung.

(Roland Freisitzer; 08/2013)


Norbert Gstrein: "Eine Ahnung vom Anfang"
Hanser, 2013. 350 Seiten.
Buch bei thalia.at bestellen

Buch bei amazon.de bestellen

Digitalbuch bei amazon.de bestellen

Norbert Gstrein, 1961 geboren, lebt zurzeit in Hamburg und Berlin. Er erhielt unter Anderem den "Alfred-Döblin-Preis" und den "Uwe-Johnson-Preis".