Leon de Winter: "Ein gutes Herz"


Postume Aussöhnung oder transzendente Abrechnung?
Leon de Winter ersinnt eine himmlische Aufgabe für seinen ermordeten Erzfeind, den Regisseur Theo van Gogh


Van Gogh ein Engel? [...]
Es spottete jeder Beschreibung, wohin er gelangte.
Aber es lohnte sich, die passenden Worte dafür zu suchen?

(Seite 500f.)

Der durchaus anrüchige Geschäftsmann Max Kohn - Sohn von Holocaust-Überlebenden wie der Autor Leon de Winter - erhält nach einem wenig geruhsamen Leben als Drogenboss und Bordellbetreiber ein Spenderherz. Dieses pumpte zuvor Blut durch den Körper eines us-amerikanischen Franziskaners. Als Max Kohn mit der Schwester des Organspenders Kontakt aufnimmt und Fotos aus dem Besitz des Verstorbenen erhält, stellt er fest, dass er das Organ eines früheren Liebhabers seiner Ex-Frau Sonja in sich trägt. Sonja war während einer Festnahme aus Haus und Ehe des Berufsverbrechers geflüchtet. Jetzt ist sie die Lebensgefährtin des Autors Leon de Winter; er ist auch der Stiefvater von Max Kohns Sohn. So ist also der Autor, der bekannt dafür ist, die eigene Person und die Geschichte seiner jüdischen Familie zu Themen seiner Romane zu machen, selbst zum Protagonisten geworden. Wie kommt der provokante, 2004 von einem islamischen Fundamentalisten ermordete Regisseur Theo van Gogh ins Spiel? (Dem Schriftsteller Leon de Winter hatte van Gogh in seinem wirklichen Leben wie auch im Roman die "Vermarktung seines Judentums" vorgeworfen und ihn damit provoziert, dass er Sammler von Stacheldrahtproben aus deutschen Konzentrationslagern sei.)

Theo van Gogh ist probeweise im Himmel. Als überirdischer Bewährungshelfer wurde ihm der verstorbene Franziskaner zur Seite gestellt. Vielleicht könne er vor einem Weiterrücken in höhere Sphären des überirdischen Seins noch seinen Nutzen für die irdische Welt beweisen. Er, der Antisemit und Rassist, möge doch das Leben von Max Kohn und seinem Sohn, dem Stiefsohn seines Erzfeindes, schützen. Die beiden überleben einen Terroranschlag mit anschließender Geiselnahme in einer Schule im Stadtzentrum von Amsterdam. Im Untersuchungsbericht wird von einem plötzlichen, nicht durch physikalische Ursachen zu erklärenden Lichtstrahl berichtet ...

Für den, der die niederländische Innenpolitik nicht aufmerksam verfolgt, lohnt sich ein Blick in "Wikipedia" oder ein anderes aktuelles Nachschlagewerk: Theo van Gogh war zwar auch bei uns in den Medien, ebenso der Islamgegner Geert Wilders, Vorsitzender der rechtspopulistischen Partei für die Freiheit, und seit 1998 Mitglied der Zweiten Kammer der Generalstaaten. Im Roman giert er nach Popularität, indem er sich der islamistischen Terrorgruppe als Geisel anbieten möchte. Der bei uns weit weniger bekannte Job Cohen, der sozialdemokratische Bürgermeister von Amsterdam, kann ihn davon gemeinsam mit dem scheinwerfergeilen Staranwalt Bram Moszkowicz abhalten.

Außerdem spielen noch Moszkowicz' damalige Lebensgefährtin, die TV-Moderatorin Eva Jinek, und sogar die Schriftstellerin Jessica Durlacher, de Winters Ehefrau (im Roman Ex-Ehefrau - aber wer weiß schon, was in dieser Mischung aus Fakten und Fiktion echt ist), mit. Habe ich bei der Lektüre versäumt, noch andere Protagonisten und Nebenfiguren zu identifizieren? Für Nicht-Niederländer hätte ein Personenverzeichnis die Lektüre sehr erleichtert!

Das Buch spielt halb im Himmel, halb in einer imaginierten und doch durch und durch politischen Welt - und augenscheinlich ganz stark in der niederländischen Politik. Wo Fakten enden und Fiktion beginnt, mag man in den Niederlanden anders beurteilen als 1000 km weiter südlich. "Ein gutes Herz" ist ein intentionaler Roman, auch wenn die Intention nicht klar zu Tage tritt. Leon de Winter hat jedenfalls seinem schwierigen Verhältnis zu einem problematischen Zeitgenossen und publizistischen Lieblingsgegner ein spannendes und lesenswertes literarisches Denkmal gesetzt.

(Wolfgang Moser; 10/2013)


Leon de Winter: "Ein gutes Herz"
Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers.
Diogenes, 2013. 504 Seiten.
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