Bernardo Carvalho: "Dreihundert Brücken"


Ein Brasilianer im post-kommunistischen Russland

Bereits die bisher in deutscher Sprache veröffentlichten Romane des 1960 in Rio de Janeiro geborenen Bernard Carvalho zeigten deutlich, dass der Autor mit seinen Texten ein Suchender ist, ein Autor, der die Welt in seiner Literatur erkunden und erforschen will. Im Gegensatz zu den unter seinen Kollegen teilweise modischen Literaturschauplätzen London und New York (zum Beispiel), zog es den Brasilianer in seinem Debütroman in die Mongolei. Ein verschwundener Brasilianer war Ausgangspunkt für eine literarisch wunderbare Spurensuche. "Neun Nächte" hat einen sechzig Jahre zurückliegenden Suizid im tiefsten Dschungel Brasiliens als Ausgangspunkt für eine weitere hochinteressante Spurensuche, und im vorigen Roman "In São Paulo geht die Sonne unter" beschäftigte er sich mit den japanischen Einwanderern in Japan. In kein anderes Land der Welt sind so viele Japaner ausgewandert wie nach Brasilien.

Nun "Dreihundert Brücken", ein fesselnder Roman, der die Schauplätze St. Petersburg, Moskau, Wladiwostok und einige Orte in Tschetschenien hat. Zwei junge Männer finden in St. Petersburg über Umwege zueinander. Der Eine ein in Wladiwostok aufgewachsenes uneheliches Kind eines Brasilianers, der, vom Stiefvater aus Bosheit und Rache in die russische Armee gesteckt, an dem Dasein als Rekrut zu zerbrechen droht. Der Andere Sohn einer mittlerweile mit einem russischen Geheimdienstler verheirateten Russin, die ihn gleich nach der Geburt mit seinem Vater in Tschetschenien zurückgelassen hat. Eine Tatsache, die sie zwar in all den Jahren erfolgreich verdrängen konnte, jedoch nie vergessen hat.

Der Eine flüchtet nach St. Petersburg, auf der Suche nach seiner Mutter, von der er sich zwar nicht viel erwartet, obschon seine Hoffnung offensichtlich groß ist, seine Mutter kennenzulernen. Der Andere wird vom Kommandanten zur Prostitution gezwungen, als Nebenverdienst zur Aufstockung des Unterhalts der vom Staat nicht genügend finanzierten Kaserne.

Als er nach Ausübung der Aufgabe von einem Taschendieb seines Honorars beraubt wird, folgt er dem Dieb und desertiert somit gleichzeitig.

Ruslan, der auf der Suche nach seiner Mutter ist, löst durch sein Erscheinen ebenso unerwartete Gewalten in der Familie seiner Mutter aus, die ihn am Ende des Romans das Leben kosten werden.

Ganz stark ist die Entwicklung des Romans, der sich, ausgehend von zuerst nicht verbundenen Erzählsträngen, langsam zu einem Ganzen entwickelt, das den Leser nicht mehr loslässt. Was besonders hervorzuheben ist, ist das großartige Verständnis des postsowjetischen Russlands, etwas, das, nach Meinung des Rezensenten, der selbst die Jahre des Umbruchs (1989 bis 1999) in Russland lebend verbracht hat, bisher keinem nichtrussischen Autor gelungen ist. Der ständig lodernde Tschetschenienkonflikt, der den in Russland immer vorhandenen Rassismus gegenüber "Schwarz-Ärschen" (Tschiornozhopich, Menschen aus dem Kaukasus) in den Mittelpunkt stellt und ein, wenn auch abgeschwächtes, doch realistisches Bild aus den Kriegsgebieten im Kaukasus zeichnet. Ein tiefgehendes Verständnis für die Mentalität der postsowjetischen Armee und die sich rasch verändernden Postenstrukturen im Bereich des Sicherheitsdienstes Russlands rundet das Russlandbild dieses äußerst gelungenen Romans eindrucksvoll ab.

Im Mittelpunkt dieses Romans steht jedoch die Liebesgeschichte zwischen Andrej und Ruslan, obschon sie auf so wenigen Seiten im Mittelpunkt steht, dass man lange nicht ganz schlüssig entscheiden kann, ob es sich hier tatsächlich um eine Liebesgeschichte handelt, oder nicht. Sehr stark und überzeugend sind auch die vielen anderen Figuren gelungen, vom Geheimdienstmitarbeiter bis hin zur tschetschenischen Großmutter Ruslans, sodass man sich am Ende eigentlich wundert, einen nur 223 Seiten kurzen Roman gelesen zu haben.

Die Übersetzung von Karin von Schweder-Schreiner ist auch besonders geglückt, was zusätzlich zum gelungenen Eindruck beiträgt.

Die beiden Vertriebenen und Geschundenen, die beide Erniedrigungen, Folter und Qualen durch die Hand der Macht erleiden mussten, stehen in der Mitte dieses in vieler Hinsicht sehr russischen Romans, der mit einer gehörigen Prise Fatalismus gewürzt ist, doch durch die knappe und präzise Prosa nie in die Gefahrenzone von Kitsch oder Gefühlsduselei kommt. Nichtsdestotrotz folgen in diesem Roman viele eindringliche Szenen aufeinander, die unvergesslich, teilweise aber auch schwer verdaulich sind.

"Dreihundert Brücken" ist ein emotional berauschender und unvergesslicher Roman, dessen großartig zugespitztes Finale noch lange mitschwingt, nachdem man die letzte Seite gelesen hat.
Absolute Empfehlung.

(Roland Freisitzer; 10/2013)


Bernardo Carvalho: "Dreihundert Brücken"
(Originaltitel "O filho da mãe")
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Karin von Schweder-Schreiner.
Luchterhand Literaturverlag, 2013. 223 Seiten.
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