Iris Radisch: "Camus. Das Ideal der Einfachheit"

Eine Biografie


"Albert Camus - der Mann, der uns Gott nahm"

So überschrieb die "ZEIT" einen "Schwerpunkt Camus" im Feuilleton ihrer Ausgabe vom 16. Oktober 2013, wo es im Untertitel weiter hieß: "Er faszinierte Millionen mit seinen Romanen 'Der Fremde' und 'Die Pest'. Er war ein intellektueller Star, ein Held der Hoffnungslosigkeit und des Absurden. Er lebte, was er schrieb, war kompromisslos, demütig und leidenschaftlich. Er glaubte an nichts, außer an das Leben. Nach dem großen Streit mit Jean-Paul Sartre war er lange im Abseits. Heute ist er so gegenwärtig und zeitgemäß wie kaum ein anderer."

Etwas plakativ, dieser Aufmacher, mit dem Iris Radisch drei Seiten Camus einleitete, aber durchaus treffend. Doch Gott raubten uns bereits Hume, Kant, Voltaire, die Enzyklopädisten, Schopenhauer, die Junghegelianer und natürlich Nietzsche, den Albert Camus übrigens zeit seines kurzen Lebens verehrte; Camus formulierte es nur anders: Wer der Hoffnungslosigkeit der Welt nicht standhält, dem bleibt der Sprung in die Transzendenz (vulgo Gott). Dafür muss man nach Camus aber einen Preis zahlen: Den Verlust der festen Gründung in der Vernunft. Camus nennt das den "Philosophischen Selbstmord".

Iris Radisch, Co-Leiterin des Feuilletons der "ZEIT", verfasste das wohl biografischste Buch unter den drei Neuerscheinungen, die im August und September zu Camus erschienen sind. Radischs Expertise und Engagement für die französische Literatur wurde im Jahre 2009 mit der Ernennung zur "chevalière des Arts et Lettres" von der damaligen französischen Kulturministerin honoriert. Diese Nähe zur französischen Literatur merkt man dieser Biografie auch wohltuend an.

Camus einzuordnen fällt allein deshalb schon so schwer, weil sein Leben von gleich drei Kriegen und zwei Kulturkreisen geprägt ist. Dem Ersten Weltkrieg fiel sein Vater zum Opfer, den Zweiten durchlebte er selbst in Frankreich im Spannungsfeld von Widerstand und Kollaboration, zwischen Faschismus, Bolschewismus und Anstand. Während bei diesen beiden Kriegen Gut und Böse recht einfach zu identifizieren waren, stand er seinem dritten Krieg, dem Algerienkrieg, hilflos gegenüber.

Trotz oder auch wegen der hohen Dynamik in der Zeit der Weltkriege fällt die Konstanz seines Denkens und Handelns stark auf. Er propagierte und lebte eine Einfachheit der Existenz und lehnte alle politischen und religiösen Konstruktionen ab, die den Menschen im Hier und Jetzt in irgendeiner Form beeinträchtigten. Teleologische Geschichtsphilosophien lehnte er ebenso ab wie metaphysische Spekulationen, denn diese neigten dazu, Leid und Tod zu rechtfertigen. Dagegen lief er kompromisslos publizistisch Sturm. Radisch nennt ihn einen Dekonstruktivisten von Erlösungsfantasien.

Noch vor dem Inhaltsverzeichnis prangt das folgende Bekenntnis Camus' auf einer der ersten Seiten des Buches: "Antwort auf die Frage nach meinen zehn bevorzugten Worten: 'Die Welt, der Schmerz, die Erde, die Mutter, die Menschen, die Wüste, die Ehre, das Elend, der Sommer, das Meer.'" Ein wenig umsortiert ergibt diese Aufzählung die Titel der zehn Kapitel, in die Iris Radisch das Buch unterteilte. Man wird neugierig, welchen Verlauf einzelne Kapitel nehmen werden, denn es ist keineswegs ganz einfach, Leben und Werk in einer halbwegs chronologischen Ordnung diesen Begriffen zuzuordnen. Der Ansatz ist ungewöhnlich, doch er geht auf. Da werden wohl einige Blätter mit Skizzen vollgemalt worden sein, bis das Exposé stand.

Die Themen Mutter, Wüste, Sommer und Meer bilden Konstanten in Camus' Leben und Werk, die in vielfachen Bezügen seine Erzählungen und Romane anreichern und dort leicht identifiziert werden können. Unter dem Begriff Erde wird Camus' kompliziertes Verhältnis zu Algerien thematisiert. Dass sein Algerienbild, geprägt von Einfachheit, Sonne, Himmel und Meer, die latenten Konflikte der Bevölkerungsgruppen so ausblenden konnte, ist aus dem Rückblick nicht einfach zu deuten. Seine Familie konnte auf eine hundertjährige Präsenz in Algerien zurückblicken, er bezeichnete sich selbst als Algerier, als Afrikaner sogar, war jedoch bei aller Einfachheit der familiären Verhältnisse ein Kolonialist, der an der Zweiklassengesellschaft im Grunde nichts auszusetzen hatte. Einzelnen gebildeten und kultivierten, i.e. europäisierten, Arabern - wie die Franzosen die Maghrebiner heute noch bezeichnen - könne man ja die vollen Bürgerrechte zuerkennen. Dass die islamische Mehrheitsgesellschaft aber die gesellschaftliche und politische Macht über ihr Land beanspruchen könnte, kam ihm wohl nicht in den Sinn. Und so überraschte ihn die Anfang der 1950er-Jahre auflebenden Revolten. Er stellte sich den Gewaltparteien in den Weg und plädierte für einen Dritten Weg, doch der französische Imperialismus prallte auf eine fanatisierte Nationale Befreiungsfront (FLN), und Camus wurde schlicht ignoriert, derweil die Pariser Intellektuellenhochburg am rive gauche ihn als Träumer mit Spott überzog. Vielleicht lässt sich aus heutiger Sicht sogar behaupten, dass Camus besser in sein letztes Refugium in der östlichen Provence rund um den Luberon passte als in sein Herkunftsland Algerien. Zumindest findet sich im Luberon noch heute sein Grab.

Den Begriff "Die Welt" nutzt die Autorin, um auf Camus' legendären Sisyphos zu sprechen zu kommen. Sie bezieht sich auf ein paar handschriftliche Notizen, die erst 1988 wieder auftauchten. Die Zitate beschreiben Camus' innere Kämpfe während eines besonders schweren Tuberkuloseschubs. Alle persönlichen Pläne, alle Hoffnungen werden durch einen solchen Anfall eingeebnet. In einer schlaflosen Nacht dieses Anfalls wurde, so Radisch, das Gefühl des Absurden in Camus geboren. Welche Möglichkeiten bleiben einem Menschen im Angesicht einer zumeist tödlichen Erkrankung? Aufgeben? Kämpfen? Auch wenn nicht klar ist, wofür man am Ende kämpft, auch wenn der finale Tod letztlich die Grundkonstante im Leben bleibt, Aufgeben kommt für ihn nicht in Frage. Man muss jeden Tag erneut sein Leben in die Hand nehmen. Den hochmütigen Sisyphos, von den Göttern dazu verurteilt, auf ewig einen Stein immer wieder einen Berg hinaufzurollen, soll man sich in buddhistischer Schicksalsergebenheit als einen glücklichen Menschen vorstellen, so Radisch. Keine einfache Denkfigur; man muss sie ein wenig kneten, geschmeidig machen. Aber man muss stets auch wissen, wo es zu kämpfen lohnt und wo es keinen Zweck hat.

Im Kapitel "Menschen" geht es unter Anderem um Camus' Abrechnung mit politischen und geschichtsphilosophischen Themen, die im Wesentlichen in dem Essay "Der Mensch in der Revolte" ihren Niederschlag findet. Radisch sieht in diesem Buch das Pendant des deutschen "Die Dialektik der Aufklärung", nur bei Weitem nicht so wirkmächtig - Sartre sei Dank. Tenor: "Die Maßlosigkeit des 20. Jahrhunderts, die ihren letzten Ausdruck in den nationalsozialistischen und kommunistischen Vernichtungslagern fand, hat ihren Ursprung in der europäischen Dichtung und Philosophie." Camus führte das Problem auf seine klassische Dichotomie zurück: Die arkadische Gesellschaft und das Europa der Moderne mit all seiner Hybris, dem Fortschritt, der Gewalt und der Menschenfeindlichkeit. Dabei geht er auch mit dem sich als Kommunismus gerierenden Bolschewismus hart ins Gericht, was die Pariser Salonbolschewisten um Sartre zum Schäumen bringt. Radisch schreibt: "Im Rückblick hat Camus in allem Recht behalten: Es gibt keine Entschuldigung für die stalinistischen Schauprozesse; keine Zukunft ist es wert, dass in der Gegenwart für sie gemordet wird; Moral lässt sich nicht auf morgen vertagen; alle großen europäischen Revolutionen endeten als Erziehungsdiktaturen und hinter Mauern und Stacheldraht. Seine Kritik des Totalitarismus hat sich als eine der hellsichtigsten Gegenwartsanalysen des 20. Jahrhunderts erwiesen." Obwohl sie bei Weitem nicht Onfray'sche Dimensionen erreicht, scheut Iris Radisch im Streit der beiden Antipoden nicht vor einer deutlichen Sartre-Kritik zurück.

Nach der deutschen Kapitulation trat Camus für eine moderate Abrechnung mit den Kollaborateuren ein, aber auch für ein Europa mit einem freien Deutschland: "Camus ist einer der ersten bedingungslosen Europäer", schreibt die Autorin. Geradezu visionär klingt, was Camus 1948 im Pariser Combat schrieb: "In zehn Jahren, in fünfzig Jahren wird die Vorherrschaft der westlichen Zivilisation nicht mehr selbstverständlich sein. Umso mehr muss man jetzt schon daran denken, ein Weltparlament zu eröffnen, auf dass sein Gesetz zum universellen Gesetz werde."

Radisch: "Als er schließlich das Haus in Lourmarin bezogen, Paris hinter sich gelassen und die Einfachheit gefunden hatte, nach der er sich sehnte; als es ihm schließlich gelungen ist, seinen Stil so zu verwandeln, dass er die wortlose und stille Welt seiner Mutter wiederauferstehen lassen kann - stirbt er. Es ist das größte Paradoxon seines Lebens: Er stirbt buchstäblich in dem Augenblick, in dem alles beginnen könnte."

Gegen Ende des Buches schildert Iris Radisch ihre Gespräche mit den beiden noch lebenden Kindern Camus'. Die Tochter bewohnt sein Haus in Lourmarin und sein Sohn Camus' letzte Pariser Wohnung, derweil die Zwillinge unter sich seit Jahren Stille praktizieren. Nach den notwendigerweise distanten Hauptkapiteln des Buches schimmert Camus nun persönlich zwischen den Buchseiten hervor. Haus und Wohnung zeigen sich nahezu unverändert, seit Camus sie vor über 50 Jahren verlassen hatte. Dieser Ausflug in die Camus'sche Präsenz ist eine hübsche Idee.

(Klaus Prinz; 10/2013)


Iris Radisch: "Camus. Das Ideal der Einfachheit. Eine Biografie"
Rowohlt, 2013. 352 Seiten.
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Noch ein Buchtipp:

Albert Camus: "Sämtliche Dramen"

Sieben Theaterstücke schrieb Albert Camus neben seiner Prosa, bis heute wird er auf deutschen Bühnen gespielt.
Der Band enthält die Dramen "Caligula", "Das Missverständnis", "Der Belagerungszustand", "Die Gerechten" und "Die Besessenen" in Neuübersetzung. Zum ersten Mal auf Deutsch publiziert wird die Calderón-Bearbeitung "Die Liebe zum Kreuz", eine Familientragödie um Vater, Bruder und Schwester. Die größte Entdeckung ist das Kammerstück "Der impromptu der Philosophen", unter Pseudonym veröffentlicht, in Frankreich erst 2006 erschienen. Camus nimmt darin Jean-Paul Sartre auf den Arm: Ein Irrer erklärt einem ehrbaren Bürger die Absurdität des Lebens.
Erstmals alle Dramen des großen französischen Autors in neuer Übersetzung vereint, mit einem Nachwort von Hinrich Schmidt-Henkel - ein wunderbares Geschenk für Leser und Theaterfreunde! (Rowohlt)
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