Geert Mak: "Amerika!"

Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten


Auf den Spuren Steinbecks

Im Jahr 1960 unternahm John Steinbeck zusammen mit Charley, dem Pudel seiner Frau, eine ausgedehnte Reise an den "Rändern" der USA entlang: von seinem damaligen Sitz Sag Harbor über New York und die Neuengland-Staaten, an den großen Seen vorbei und über North Dakota und Montana zur Pazifikküste, deren Verlauf er bis Monterey südlich von San Francisco folgte, worauf er durch Arizona, New Mexico und Texas nach New Orleans gelangte und schließlich praktisch der Luftlinie entsprechend nach Nordosten heimfuhr.

Der niederländische Publizist Geert Mak, durch seinen Erfolgstitel "In Europa" auch im deutschsprachigen Raum bekannt geworden, ist im Jahr 2010, also fünfzig Jahre nach Steinbeck, dessen Route bis New Orleans mit wenigen Abweichungen gefolgt. Wie auch Steinbeck haben er und seine Frau den Kontakt zur Bevölkerung gesucht mit dem Ziel, herauszufinden, was die Vereinigten Staaten von Amerika und die US-Amerikaner ausmacht - und was sich innerhalb der letzten fünf Jahrzehnte geändert hat.

Am Anfang des Buchs zeigt eine Karte den Streckenverlauf und lässt Rückschlüsse auf die enorme Leistung zu, die mit einer solch weiten Reise durch ganz unterschiedliche Landstriche, Staaten und Klimaregionen einhergeht. Mak orientiert sich nicht zu eng an Steinbecks Vorlage, dessen "Reise mit Charley" er sehr genau studiert hat.

Im Verlauf seiner Reise begegnet Mak zahlreichen Menschen und beobachtet ein Amerika im Umbruch, in einer offensichtlichen Abwärtsbewegung, die sich zu Steinbecks Zeit erst andeutete durch das Sterben von Städten und kleinen und mittleren landwirtschaftlichen Betrieben, durch zunehmende Armut mit all ihren Begleiterscheinungen. Detroit, das klassische Beispiel für eine einst wunderbar prosperierende Stadt, in der heute ganze Viertel leer stehen und die restlichen zu einem guten Teil von Gewalt und Kriminalität geprägt sind, mag sich in einer extremen Situation befinden, doch zeigt Mak, dass Detroits Entwicklung als symptomatisch angesehen werden kann.

Der Autor flicht viel Geschichte ein und erläutert, wie der us-amerikanische Traum entstand und von vielen Menschen auch verwirklicht wurde; dessen Bröckeln in den von Steinbeck dokumentierten frühen Sechzigern und beginnenden Einsturz in unserer Zeit vermag er eindrucksvoll darzustellen. Er setzt dabei nicht auf Sentimentalität. Es genügt, die Menschen zu Wort kommen zu lassen mit ihren begründeten Zukunftsängsten und Erfahrungen.

Sozusagen nebenher erhält der Leser detaillierte Landschaftsimpressionen und kann diese mit den Eindrücken von Steinbeck abgleichen. Überhaupt Steinbeck - Mak, der Steinbeck-Kenner, bringt dem Leser auch die Biografie, die Persönlichkeit, die Methodik des berühmten Autors nahe. Und nicht zuletzt setzt sich nach und nach ein differenziertes Bild der Geschichte der USA zusammen, aus der Distanz des Europäers heraus und mit der Sympathie eines Kosmopoliten.

Der Anfang wirkt etwas schleppend, aber nach etwa fünfzig Seiten nimmt das Buch enorm an Fahrt auf, und alles Weitere liest sich packend, sodass es bald schwer fällt, das Werk aus der Hand zu legen. Wer sich über die bereits sehr komplexen Inhalte des Buchs hinaus informieren will, findet im Anhang Möglichkeiten hierzu.

Ein starkes Werk, das gerade in einer Zeit, in der in Europa - und anderen Teilen der Welt - die Kritik an den USA zunehmend hochkocht, Verständnis weckt, wenn schon keine Sympathie; und das ein Muss ist für jeden Steinbeck-Verehrer.

(Regina Károlyi; 08/2013)


Geert Mak: "Amerika! Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten"
(Originaltitel "Amerika")
Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke, Gregor Seferens.
Siedler, 2013. 621 Seiten.
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Ein weiteres Buch des Autors:

"Die Brücke von Istanbul. Eine Reise zwischen Orient und Okzident"

In diesem Buch widmet sich Geert Mak Geschichte und Gegenwart der Stadt Istanbul. Hier verläuft die Grenze zwischen Europa und Asien, hier berühren sich Orient und Okzident. Indem Mak die berühmte Galatabrücke überquert, macht er sich auf die Suche nach dem Innersten der türkischen Metropole. Eine glänzende Schilderung von Vergangenheit und Gegenwart Istanbuls, der faszinierenden Stadt am Bosporus.
Wollte man ein Bauwerk auswählen, um die Geschichte Istanbuls, der einzigen Metropole, die auf zwei Kontinenten liegt, zu erzählen, dann müsste es die Galatabrücke sein. Seit eineinhalb Jahrhunderten ist sie der eigentliche Lebensnerv der Stadt, mit ihr verbindet sich das alte und das neue Istanbul, hier berühren sich Abend- und Morgenland. Sie ist ein Bauwerk, an dem sich Gegensätze verbinden und historische Ereignisse verdichten. So werden die Anlegestellen der Fähren zur Inspirationsquelle der Dichter, die Bars im Untergeschoss der Brücke zum Treffpunkt der besten Taschendiebe Europas.
In seinem Buch kommt Geert Mak, der große europäische Geschichtsschreiber und Reiseschriftsteller, mit den Straßenhändlern und Zigarettenjungen, den Teehändlern und flanierenden Touristen ins Gespräch. Er beschreitet die 484 Meter dieser Brücke und erzählt dabei auf seine unnachahmliche Art von kleinen Geschichten und großer Geschichte im wechselvollen Leben einer großartigen Stadt. (Pantheon)
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Weitere Buchtipps:

Antje Gunsenheimer, Ute Schüren: "Amerika vor der europäischen Eroberung. Neue Fischer Weltgeschichte. Band 16"

Die lange alte Geschichte der "Neuen Welt".
Der erste von drei Amerika-Bänden der "Neuen Fischer Weltgeschichte" widmet sich der Geschichte der beiden Kontinente bis zur Epochenschwelle der Invasion durch die Europäer um das Jahr 1500. Gestützt auf neueste Erkenntnisse der Archäologie und anderer historischer Disziplinen zeichnen Antje Gunsenheimer und Ute Schüren ein faszinierendes Bild politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Vielfalt auf dem Doppelkontinent.
Die "Neue Fischer Weltgeschichte" ist die erste umfassende Universalgeschichte des 21. Jahrhunderts. Ihr stringentes Konzept setzt Maßstäbe, die Lesbarkeit ihrer Darstellungen erfüllt höchste Ansprüche. (S. Fischer)
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Stefan Rinke: "Kolumbus und der Tag von Guanahani. 1492: Ein Wendepunkt der Geschichte"
"Tierra!" Ein Schrei zerreißt die Stille über dem nächtlichen Atlantik. Am 12. Oktober 1492 um zwei Uhr sichtet der Matrose Rodrigo de Triana Land - die Insel Guanahani, das heutige San Salvador. Endlich! Ein Kanonenschuss weckt die Mannschaften der Santa María, Pinta und Niña.
Nach dieser Entdeckung entbrennt in Europa der Kampf um die Aufteilung der Neuen Welt. Für die Ureinwohner beginnt ein Leidensweg von Unterdrückung und Tod. Eine scheinbar wohlbekannte Geschichte, doch der renommierte Historiker Stefan Rinke verlässt die allzu vertrauten Perspektiven und erzählt diesen historischen Wendepunkt, seine Vorgeschichte und Folgen neu. Er wertet auch die bisher wenig beachteten Überlieferungen der indigenen Bevölkerung aus und rückt das übliche Bild von der ruhmreichen Entdeckung gerade: War doch Kolumbus weder der erste Europäer in Amerika noch begriffen er und seine Zeitgenossen die unermessliche Bedeutung seiner Expedition. (Theiss-Verlag)
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