Fritz J. Raddatz: "Bestiarium der deutschen Literatur"


Das neue Bestiarium der deutschen Literatur zeichnet sich durch zwei Faktoren aus: Zum Einen durch die Auswahl der Autoren, zum Anderen durch die fehlenden Autoren. Der Rezensent geht stark davon aus, dass Fritz J. Raddatz die Einwilligung der karikierten Schreiber einholen musste, und aufgrund dessen ein tatsächlich ziemlich bunter Haufen von possierlichen Tierchen in das Buch Aufnahme fand. Dem Leser werden einige Autoren möglicherweise unbekannt sein, aber das tut dem witzigen und absolut homogenen Charakter des Breviers keinen Abbruch.

Denn aus dem Sammelsurium von Autoren ergeben sich eigenwilligste Konturen, die mit viel Einfühlungsvermögen verallgemeinert werden können. Vorkommen, Paarungsverhalten, Fortpflanzung, Aufzucht, soziale Eigenschaften und wissenschaftliche Dimensionen veredeln jeden einzelnen komischen Vogel und jede einzelne aberwitzige Kröte. Mit Herta Müller als Viper und Elfriede Jelinek als Möwe veredeln zwei Literaturnobelpreisträgerinnen die amüsante Zusammenstellung verschiedenartigster possierlicher und weniger possierlicher Zeitgenossen.

Das Bestiarium muss im Zusammenhang verstanden werden, auch wenn sich das jetzt wie eine Anleitung zum Leseverhalten potenzieller Satireliebhaber anhört, aber der Rezensent hat die zahlreichen schrillen, pompösen und fast lautlosen Geräusche in guter Erinnerung, die Autoren im Falle von Gefahr, Balz, grundsätzlicher sozialer Interaktion oder ohne jedweden Grund fabrizieren. Die dargestellten Autoren ergeben ein Gesamtbild, das nicht von schlechten Eltern ist.

Fritz J. Raddatz hat sich auch selbst als Prachtleierschwanz in das Brevier eingebracht. Er weist im Rahmen einer editorischen Notiz darauf hin, dass keineswegs ausschließlich deutsche Autoren zur Darstellung gelangen, ein Titel wie "deutschsprachige Literatur" dem Verlag und ihm selbst jedoch zu sehr nach Oberseminar klang. Nun gut, das ist Ansichtssache, der Rezensent hätte gegen das "deutschsprachige" überhaupt nichts einzuwenden gehabt. Warum Kehlmann eine Abneigung gegen das Wort "deutschsprachig" hat und sich als "deutschen Autor" sieht, wird er bei Gelegenheit vielleicht irgendwann einmal erklären.

Ein Beispiel für die großartige Fähigkeit von Fritz J. Raddatz, den Nagel auf den Kopf zu treffen, sei mit einem Ausschnitt aus dem Text über Thomas Bernhard erbracht:
"Fledermausartiger Totenvogel, dessen Flügel ihn klebrig umschlingen. Ein nasenförmig vorspringender Schnabel lässt ihn auf verzerrte Weise menschlich aussehen - weswegen ländliche Bewohner sich vor dem Tier fürchten, das vornehmlich auf Friedhöfen oder in Spital-Gärten nistet und als bösartig gegenüber seiner Umwelt gilt."

Die herrlichen Zeichnungen von Klaus Ensikat sind für den Gesamteindruck des Buches freilich von eminenter Bedeutung. Sichtungs- und Leseempfehlung!

(Jürgen Heimlich; 09/2012)


Fritz J. Raddatz: "Bestiarium der deutschen Literatur"
Rowohlt, 2012. 144 Seiten.
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