Christoph Bieber, Claus Leggewie (Hrsg.): "Unter Piraten"

Erkundungen in einer neuen politischen Arena


Zwischen Froschgesang und Revolte

Ins Reich der Märchen fällt das "vernetzte Froschgequake", mit dem die Frösche empört die Trockenlegung ihres Heimattümpels durch Immobilienhaie verhindern wollen. Ins Reich der unsterblichen Illusionen fällt der versöhnlerische "vernetzte Menschenprotest", mit dem endlich menschliche Verhältnisse gegenüber der Macht des Kapitals erkämpft werden sollten.

Versprüht die im Aufschwung befindliche Piratenpartei Hoffnung und "Erlösung"? Immerhin: Sie wolle im Kleinformat  und im kommunalen Bereich jedweder Bürgerinitiative - je nach Projekt - zum Durchbruch verhelfen, stramm vernetzt, Massen mobilisierend und in Minutenschnelle in unserer so sehr schnelllebigen Zeit.

Indessen sind auch mögliche Zweifel der mitunter im politischen Halbschlaf befindlichen Wähler für die Piratenpartei wie weggewischt: Die jungen und forschen Leute können unbefleckt von Häme und Sonderlingsvorwürfen auch weiterhin in die Parlamente einziehen. Dank der ersten wissenschaftlichen Erkundung in dem Sachbuch "Unter Piraten" ist nun nachgewiesen: Nein, die Piraten sind keine Biertrinker, keine einseitig Bekloppten, sondern einfach andersartig. Ernst zu nehmende Netzmacher. Zunehmend politisch engagiert. Nicht säbelrasselnd, sondern eben leise bewaffnet mit  Mobilrechnern. Ja, sie wollen Breschen schlagen in des politischen Stumpfsinns Mauern. Für mehr Bürgerrechte und mehr persönliche Freiheit. Scheint die Freude verfrüht? Denn nur 10 Prozent habe die Partei auf Grund der Inhalte gewählt, 80 Prozent geben als Wahlmotiv die "Unzufriedenheit mit den anderen Parteien" an (S. 218).

"Unter Piraten" weist nach, akribisch belegt mit Fakten sowie Tabellen und auf der Grundlage von Umfragen: Die Piratenpartei ist in der Welt keine Einzelerscheinung. Sie kommt nicht aus dem Nichts. Schweden hatte sie zuerst im Parteienspektrum, anfängliche Bewegungen gab es in den 1980er-Jahren in den USA.

Schon im Vorfeld war sichtbar: Einerseits wirft man den Piraten vor, die politische Landschaft entpolitisieren zu wollen, andererseits schwören jene, eindeutig antikapitalistische Positionen zu vertreten. Was stimmt? Liegt die Wahrheit genau in der Mitte? Wer Neues wagt, dem sollten keine Steine in den den Weg gelegt werden.

Lesen wir, was die 24 Autorinnen und Autoren zu dem Phänomen der Piratenpartei für den Leser entdeckt haben.  In 18 Beiträgen, unterteilt in die Abschnitte Entern, Ändern und Neustart, erkunden sie u.A. das Milieu, die geschichtliche Einordnung, das politische Denken sowie den demokratischen Veränderungswillen der Piratenpartei.

Nicht nur Politverdrossenheit ...
Der Häme ist einer Bewunderung gewichen: Innerhalb von sechs Jahren (formale Gründung am 10. September 2006) habe die Piratenpartei Land gewinnen können und sitze bereits in Länderparlamenten, so der Herausgeber Christoph Bieber schon in seiner Einleitung (S. 9). Erstaunlicher als die Erfolge an der Urne erscheinen jedoch die Organisationsentwicklung sowie die immer hitziger werdende öffentliche Debatte. Es sei eine Bewegung von der Zuschauer- zur Beteiligungsdemokratie zu verzeichnen (S. 10). Weder neue Themen noch neue Inhalte wären die Ursache des Aufstiegs gewesen, sondern möglicherweise hätte die Netzsperrung zur Politisierung geführt sowie das  "Versprechen auf eine neue Form der Teilhabe am politischen Prozess" (S. 13).  Und weiter: "Nicht so sehr die inhaltliche Auseinandersetzung (...) konturieren den Markenkern der Partei, sondern eher Arrangement und Stil der innerparteilichen Meinungs- und Willensbildung." (S. 15) Kurz: Nicht nur Politikerverdrossenheit sei im Spiel gewesen, sondern die Andersartigkeit: Das Alter der Mitglieder, deren Sozialisation hätte besonders Jung- und Nichtwähler angezogen. Vor allem auch die Offenheit, das Sichtbarmachenwollen politischer Prozesse, die Infragestellung gängiger Routinen des politischen Systems ... (S.17) Die Piratenpartei verstehe sich als Bürgerrechtspartei. Es gehe "nicht um Computer und Internet an sich, sondern um uneingeschränkten Zugang zu Sozialstrukturen." Politische Forderungen im Bereich Bildung, kostenloser Nahverkehr, Versammlungsrecht, Freigabe von Drogen etc., all das ist von starkem Interesse für Jungwähler, auch wenn kein konkretes Programm existiert, wie solche Forderungen gegen den Widerstand von Staat und Kapital durchgesetzt werden könnten. Und genau dies ist es, was genauer unter die Lupe zu nehmen ist.

Ziele im Klartext
Was die Autoren ausgegraben haben, liest sich in Auszügen so: (S.176-177):  Es gehe u.A. um "... Protest gegen das politische Establishment, das als 'nicht-(mehr)-responsiv' gegenüber den Bedürfnissen und Wünschen der Bevölkerung wahrgenommen wird." Piraten seien Teil der weltweiten "Facebook-Revolutionen", deren gemeinsames Merkmal es ist, mit Hilfe digitaler Kommunikation und Vernetzung in kürzester  Zeit, ohne zentrale Steuerung und ohne hierarchische Koordination, große Empörungs- und Mobilisierungswellen hervorzurufen und zu bündeln." (Nur Feuerwehr- und Löscheinsätze? Anmerkung des Rezensenten.) Politik habe ihre Funktion als "Schrittmacher" sozialer Entwicklungen längst eingebüßt, (...) Verdienst der Piratenpartei - sie stelle ein "Instrument zur experimentellen Lösung oder Überwindung der demokratischen Dynamisierungskrise in Aussicht ..." (S. 178)

Piraten seien allerdings "eine politische Sammlungsbewegung, deren programmatische und organisatorische Strukturbildung noch weitgehend offen ist." (S. 180-185) "Sie erinnern daran und sensibilisieren dafür, dass jenseits von Staat und Markt, die mit den Mitteln der Autorität und des Geldes operieren, noch andere Formate sozialer Ordnungsbildung existieren, (...)"  Die Mittelposition der Piraten: Sie  beteiligen sich an staatlicher Rechtsetzung "wenn auch als Opposition , die sich zunächst darauf konzentriert, die Lösungsansätze der Regierungen als einseitige Parteinahme für Wirtschaftsinteressen oder als autoritären und intransparenten Missbrauch der neuen Medien für Überwachungszwecke öffentlich zu kritisieren ..."

Transparenz und Illusionen
"Zeitarmut ist das Kennzeichen einer digital beschleunigten Demokratie ...", schreibt Karl-Rudolf Korte auf den Seiten 200-205. "Regieren im Minutentakt", der Piraten Querschnittsthema sei Transparenz. Sie sei "die erste Partei, die historisch aus Kommunikationstechnologie und der zugehörigen Nutzerkultur hervorgegangen ist." Nicht die Nutzung des Internets sei dabei von Bedeutung, sondern "die Haltung der Nutzer gegenüber einem gesellschaftlichen Grundkonflikt zwischen Freiheit und Sicherheit. Die Teilhabe am politischen Diskurs sei oft wichtiger als die Übereinstimmung mit dem Ergebnis der politischen Entscheidung." "Piraten spiegeln Bürgerinitiativen-Klientelismus wider." ... "Mehr ernsthafte Beteiligung, mehr sichtbaren Nutzen (...), mehr Bewegung und Netzbarkeit als hierarchische Großorganisation." "So könnte politische Repräsentation in Deutschland modernisiert werden." (S. 206/207)

(S.76/77): Technik habe uns passiver gemacht, Technologie habe den Amateur zurück in die politische Arena gebracht. Siehe Open-Source-Politik. (S.78/79): "Wir leben im Zeitalter des Open-Source-Prinzips: bei der Technologie, in der Kultur und nun auch in der Politik. Es zeichnet die gesellschaftlichen Bewegungen aus, "die mit Hilfe vernetzter Technologien möglich machen, dass wir Gemeinschaft anders (er)leben. Dies sei der 'Reichtum von Netzwerken', die Yochai Benkler vor fünf Jahren beschrieb (vgl. Benkler 2007). Er wächst und gedeiht überall, und so ist es endlich  an der Zeit, dass die Menschen ihn als das erkennen, was er ist: die Macht von heute." Ergänzend heißt es auf Seite 94 hierzu: "Das Internet hat die Zugangsmöglichkeiten zu Wissen schlagartig erweitert ... Aber eben nicht auf einer gesicherten Eigentumsbasis, sondern als gewährten Zugang." Der werde also "die zentrale politische Forderung der Zukunft werden." Der Autor Michael Seemann bezieht sich dabei auf Jeremy Rifkin, der dies bereits zur Jahrtausendwende in seinem Buch "Access" formuliert und hellsichtig darauf hingewiesen habe, "dass der Zugang zu Ressourcen aller Art immer weniger über Eigentum (...) organisiert wird, sondern über Modelle des Zugangs."
(Randbemerkung des Rezensenten: Wer hat Zugang, wer kann sich das leisten, welche Mitwirkung ist dadurch gegeben? Denn, so lesen wir auf Seite 98: "Die gleichen technischen Möglichkeiten bedingen noch nicht den gleichen Zugang.")

Falltüren
Auf Gefahren bei der Nutzung des weltweiten Netzes für die Piraten verweist Alexander Hensel auf  Seite 47: Es seien die Unverbindlichkeiten und die Flüchtigkeit, die bewältigt werden müssen, denn die Piraten würden "kaum über Mechanismen der Steuerung oder gar Disziplinierung ihres Milieus verfügen." Der Druck werde wachsen, sich an Bedürfnisse neuer Wählerschichten anzupassen.

Weiter lesen wir auf den Seiten 108-110 u.A.: Die Piraten wollen eine Partei sein, die "nicht einfach Elemente direkter Demokratie stärker in die gegenwärtige Politik einbringt, sondern die für die Demokratie konstitutiv grundlose Spaltung in Regierende und Regierte auf neue Weise in den Bürger_innen verankert und dynamisiert." Einmal herrschen, dann wieder beherrscht werden. So würde die innere Spaltung der Bürger in Regierende und Regierte individualisiert und zugleich dynamisiert. Eine Demokratie, "deren Herrschaftsausübung zu jeder Zeit mit dem zählbaren Volkswillen übereinstimmt: eine totale Identität der Gesellschaft mit ihren Herrschaft ausübenden Institutionen." In der totalen Sichtbarkeit bleibe kein Raum für Subjektivierung des Volkes, es kann in der Falle der Transparenz nicht mehr entkommen. Alles ziele "auf eine entpolitisierte Verwaltung im Namen der öffentlichen Meinung."  Die Piraten würden sich in der Rolle der Vermittlerin sehen, die "Bedingungen der restlosen Versöhnung der Bürger_innen mit ihrer Herrschaft produziert."

Gefahren und Visionen
(S. 235): "Und hier bleiben Fragen, ob die Piraten mit dem politischen Produktionsmittel Internet dieses als Distributionsmittel nicht falsch einschätzen und so einen Hauptgegner unterschätzen, nämlich die Produzenten und Eigentümer der Netzmedien." (S.237): Keiner dürfe die Zensur- und Kontrollmacht der Medienkonzerne übersehen, das wäre fahrlässig und fatal, "bei ihnen konzentrieren sich schon ökonomisch alle Mittel, die öffentliche Meinung zu formatieren." Klar erkennbar hier der wesentliche Punkt: "Die Machtfrage wird nicht gestellt."

Zur nahen Zukunft der Piratenpartei wird festgestellt: (S. 132): "Zunächst wird es darum gehen, bundesweit in sämtliche Parlamente ... einzuziehen." Sie muss Farbe bekennen, muss eine Koevolution anstoßen, "die Schritt hält mit dem Wandel, dem sie, nicht zuletzt durch sich selbst, fortlaufend ausgesetzt ist."

Hier sei folgender Einschub gestattet: Joachim Paul, Medienpädagoge und promovierter Biophysiker in einem Interview mit dem "neuen deutschland" am 16. Mai 2012: Der Kapitalismus sei tot -  juhuu!! Aber er denke, es dauert noch ein bisschen, bevor er seine letzten Zuckungen mache. Er würde sich wünschen,  dass die Linken und die Piraten in naher Zukunft zusammenarbeiten und so eine starke Front für eine neue Gesellschaft schaffen könnten. Er stelle sich vor, dass die Menschheit bei diesem System nicht stehenbleibe, "so dumm kann der Mensch nicht sein, oder?"

Kritisch sei angemerkt: Im Umschlagtext ist zu lesen: Auch die Wissenschaft sei gefordert, "ihren Beitrag zu einer anspruchsvollen Zeitdiagnose zu leisten." Es ist nachzuhaken, ob durch Umschreibungen (wie z.B. Protestkulturen statt Klassenkampf) wahre Sachverhalte wieder einmal in Nebelschwaden verschwinden und dem Versöhnlertum mit den Herrschenden Tor und Tür weiter geöffnet werden. Das wahre Konfliktpotenzial bleibt im Verborgenen. Transparenz? Was würden die Piraten selbst dazu sagen?

Auf Seite 110 gesteht Frieder Vogelmann: Offen bleibe, "ob wir diese Gegenwart tatsächlich zu unserer Zukunft machen wollen." Der Rezensent würde das so formulieren: Alles ist offen ... alles befindet sich in der Schwebe zwischen Froschgesang und echter und wirksamer Revolte. Quo vadis Deutschland? Dies könnte eine Antwort sein: "Die Piraten positionieren sich (...) mit den Parteien des linken Spektrums." (S. 229)

Frösche haben es gut: Sie wissen nichts von ihrem sinnlosen empörten Gequake.

(Harry Popow; 07/2012)


Christoph Bieber, Claus Leggewie (Hrsg.): "Unter Piraten.
Erkundungen in einer neuen politischen Arena"

transcript Verlag, 2012. 248 Seiten.
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Weitere Buchtipps:

Marie Katharina Wagner: "Die Piraten. Von einem Lebensgefühl zum Machtfaktor"

Partei oder Lebensgefühl? Sind die Piraten überhaupt politisch - oder doch nur eine Protestbewegung?
Die Piraten wehen wie eine frische Brise durch die politische Landschaft in Deutschland. Dabei machen sie den Volksparteien reihenweise Wähler abspenstig - entsprechend nervös reagieren die etablierten Kräfte auf den neuen und rasend schnell wachsenden Machtfaktor.
Als sie gegründet wurden, waren die Piraten noch eine reine Sonderlingspartei, verbunden durch die Angst vor dem Eingriff des Staates in ihr Lebensbiotop - das weltweite Netz. Mit dieser Agenda sprechen sie die Ansprüche einer ganzen Generation an, aber noch viel mehr: Inzwischen sind die Piraten auch zur Stimme der Protest- und Wutwähler geworden, denen es kaum oder gar nicht um die Forderungen der Partei geht.
Wie politisch ist ihr Engagement also? Gerne erklären die Piraten, dass sie auf viele Fragen keine Antworten wissen. Ihr Parteiprogramm formuliert kein gesellschaftliches Ziel, sondern ein Plädoyer für ein Lebensgefühl. Marie Katharina Wagner beobachtet und begleitet die Piraten seit Jahren. Mit ihrer fundierten Analyse geht sie der plötzlichen Piraten-Begeisterung auf den Grund und wagt eine Prognose, wohin die öffentliche Begeisterung die Partei und Deutschland führen könnte. (Gütersloher Verlagshaus)
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Friederike Schilbach: "Die Piratenpartei. Alles klar zum Entern?"
Mit Beiträgen von Hans Ulrich Gumbrecht, Katja Kullmann, Kathrin Passig, Nina Pauer, Frank Schirrmacher, Moritz von Uslar, Juli Zeh und vielen Anderen.
Wer sind sie? Was wollen sie? Und warum sind sie so erfolgreich? Diese Fragen haben sich alle gestellt, als die Piratenpartei bei den Berliner Wahlen im September 2011 mit überraschenden 8,9 Prozent der Stimmen erstmals in ein deutsches Parlament einzog. Was haben die Piraten den etablierten Parteien voraus? Sind sie die neuen Grünen? Oder doch nur eine politische Modeerscheinung? Was erzählt ihr Erfolg über unsere Zeit, unsere Gesellschaft, über Kommunikation? Und werden wir die nächsten Jahre, wenn wir über Politik reden, immerzu romantische Metaphern aus der Welt der Seeräuber und Freibeuter bemühen? Erste Antworten gibt es in diesem Band. (bloomsbury)
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