Patrick Modiano: "Im Café der verlorenen Jugend"


Auf der Suche nach der verlorenen Orientierung

Der Roman "Im Café der verlorenen Jugend" des 1978 für "Die Gasse der dunklen Läden" mit dem "Prix Goncourt" ausgezeichneten französischen Romanciers Patrick Modiano ist das Porträt der jungen Louki, die allein gelassen und recht einsam aufwächst. Diese Tendenz zieht sich durch ihr ganzes Leben.

Aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet Patrick Modiano das Leben Loukis, die nachts durch die Straßen streunt, die sich verschiedenste Zufluchtsorte sucht, wie zum Beispiel eine Buchhandlung, ein Kino oder auch eine Autowerkstatt. Und so kommen neben Louki selbst auch ein Stammgast ihres Cafés, ein von ihrem Mann beauftragter Detektiv und ihr Mann zu Wort.

"Ich habe mich oft gefragt, ob irgendein Bekannter ihr vom Condé erzählt hatte, bevor sie es zum ersten Mal betrat. Oder ob sich jemand mit ihr in diesem Café verabredet hatte und nicht gekommen war. In diesem Fall hatte hätte sie Tag für Tag, Abend für Abend Stellung an ihrem Tisch bezogen, in der Hoffnung, ihn an diesem Ort wiederzufinden, dem einzigen Bezugspunkt zwischen ihr und dem Unbekannten."

Patrick Modiano erzählt Loukis Geschichte bewusst fragil, fragmentarisch aufgesplittert und möglichst verschwommen, offensichtlich, um das von ihm beabsichtigte Bild erst langsam in der Wahrnehmung des Lesers entstehen zu lassen.

Etwas unvermittelt verlässt Louki den Ehemann und lernt Jeanette Gaul kennen, mit der sie nun viel verbindet. Unter Anderem auch Drogen.

Im Café "Le Conde" gibt sie sich unnahbar und fast farblos, ängstlich und schüchtern und passt somit gut in das Bild der vielen Stammgäste, von denen viele, wie auch Louki, auf der Suche nach dem Sinn des Lebens sind. Sinnsuche und Orientierungslosigkeit als Ausgangspunkt dieses Romans ist, gepaart mit der etwas aufgesetzt agierenden Louki, ein wenig zu wenig für einen wirklich anspruchsvollen Roman, der um gut die Hälfte der Seiten abgespeckt vielleicht als Erzählung funktioniert hätte, auch wenn der Rezensent nicht unbedingt auf eine Identifizierung mit den Protagonisten eines Romans besteht. Zu dürftig und wenig interessant ist die Handlung, zu verschwommen dafür die Prosa. Auch die Wortwahl lässt stilistisch immer wieder Wünsche offen; die Bezeichnung "die Bullen" passt nach Meinung des Rezensenten eigentlich nicht in die Umgebung, da wären wahrscheinlich "die Gendarmen" besser angebracht gewesen. Allerdings ist das wahrscheinlich ein durch die Übersetzung entstandenes Manko.

Auch wenn über den eigentlich recht großzügig bedruckten 158 Seiten permanent ein überzeugender Duft der Melancholie liegt, ist der Text zu aufgebrochen, zu verschwommen, zu blass, zu skizzenhaft und lässt auch den gewillten Leser am Ende etwas ratlos zurück.

Die akribisch genaue Aufzählung der Pariser Gassen, wirklich jede wird namentlich erwähnt, man meint fast, der Autor habe dadurch Zeilen und Seiten gewinnen wollen, hilft dem Lesefluss auch nicht.

"Dann schlenderten wir gegen Norden, und um nicht allzusehr abzudriften, hatten wir uns ein Ziel gesetzt: die Place de la République, aber wir waren uns nicht ganz sicher, ob wir in die richtige Richtung gingen. Egal, wir konnten immer noch die Metro nehmen und in die Rue d’Argentine zurückfahren, wenn wir uns verliefen. Louki sagte, sie sei oft in diesem Viertel gewesen, während ihrer Kindheit ..."

So bleibt "Im Café der verlorenen Jugend" am Ende wie ein nur leicht durch einen Schleier durchscheinendes literarisches Objekt, das hauptsächlich aufgrund der Beschreibungen der Pariser Szenerien in Erinnerung bleibt. Die gänzlich orientierungslosen Protagonisten nerven mit Verlauf der Seiten immens und verflüchtigen sich dafür aber dankenswerterweise bereits beim Zuklappen der Seiten. Möglicherweise war genau das die Absicht des Autors, wenn ja, dann ist der Roman gelungen ...

(Roland Freisitzer; 06/2012)


Patrick Modiano: "Im Café der verlorenen Jugend"
Übersetzt aus dem Französischen von Elisabeth Edl.
Carl Hanser Verlag, 2012. 158 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2013.
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Patrick Modiano, geboren 1945, ist ein Solitär in der französischen Gegenwartsliteratur. Seit seinem aufsehenerregenden Debüt "Place de l'Étoile" veröffentlichte er mehr als zwanzig Romane bei "Gallimard" und wurde für sein literarisches Werk mehrfach ausgezeichnet, unter Anderem mit dem "Prix Goncourt" und dem "Romanpreis der Académie française". Den deutschsprachigen Lesern wurde Modiano durch die Vermittlung Peter Handkes bekannt, der auch zwei seiner Romane übersetzte. Patrick Modiano lebt in Paris.
Im Jahr 2014 erhielt er den Literaturnobelpreis: "För den minneskonst varmed han frammanat de ogripbaraste levnadsöden och avtäckt ockupationsårens livsvärld" (aus der Begründung der Schwedischen Akademie).

Weitere Bücher des Autors:

"Gräser der Nacht"

Aus der Distanz eines halben Jahrhunderts erinnert sich Jean, wie er sich nach dem Algerienkrieg in die geheimnisvolle Dannie verliebte. Als er sie in den 1960er-Jahren kennenlernt, lebt sie in Paris, hat so viele Namen wie Adressen und verkehrt mit einer zwielichtigen Bande, die Kontakte nach Marokko unterhält. Trotz der vage lauernden Gefahr werden der angehende Schriftsteller und die junge Frau ein Paar. Doch dann verschwindet Dannie von einem Tag auf den anderen. Und Jean wird als Zeuge in einem Mordfall verhört, der eine neue Geschichte von Dannie erzählt. Modianos Roman ist wie ein Film noir, voller Spannung, Sehnsucht und Geheimnis. (Hanser)
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"Place de l'Étoile"
Sein Erstling machte Patrick Modiano über Nacht berühmt: So offensiv wurde noch nie mit jüdischen und antijüdischen Klischees gespielt. Der Held Raphaël Schlemilovitch führt viele schillernde Leben, als "Kollaborationsjude", als Geliebter von Eva Braun, als jüdischer Mädchenhändler. Er kommt mehrfach zu Tode und reist durch Zeiten und Länder. Bis er schließlich auf der Couch von Dr. Freud im Wien der sechziger Jahre erwacht. Ein so unterhaltsamer wie provokanter Parforceritt - und ein literarischer Befreiungsschlag von antisemitischen Zuschreibungen. (dtv)
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"Damit du dich im Viertel nicht verirrst" zur Rezension ...

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"Der Horizont"
Während einer Demonstration stoßen sie in einem Metroeingang zufällig zusammen, Margaret Le Coz und Jean Bosmans. Sie, geboren in Berlin als Tochter einer französischen Mutter, hält sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser, er schreibt an seinem ersten Roman. Die beiden werden für kurze Zeit ein Liebespaar. Bis Margaret Hals über Kopf aus Paris flieht. Vierzig Jahre später spürt Bosmans dieser verlorenen Liebe nach. Was ihm bleibt sind seine Erinnerungen und eine konkrete Spur, die in eine Berliner Buchhandlung führt. Die Geschichte eines jungen Paares in den unruhigen 1960er-Jahren. (Hanser)
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Noch ein Buchtipp:

Dorothea Löcker, Alexander Potyka (Hrsg.): "Lesereise Kulinarium Frankreich. Kapaune, Austern und ein Glas Champagner"

Vom Erfinder der Sauerkrautstraße im Elsass bis zu Korsikas wilden Schweinen, vom Geschmack der französischen Provinz bis zur Suche nach dem letzten Bistrot von Paris wissen die Autorinnen und Autoren dieses Sammelbands unterhaltsam und informativ zu erzählen. Dabei erfährt man nicht nur, wie Armagnac, Cognac oder Champagner in die Flasche kommen, sondern nimmt auch an einem Austerngelage teil, kostet von der Salade Niçoise, erntet kostbaren Safran und tafelt wie ein echter Burgunder.
Mit Beiträgen von: Michael Bengel, Stefanie Bisping, Rudolph Chimelli, Inken Herzig, Ellen Katja Jaeckel, Gerd Kröncke, Volker Mehnert, Peter Peter, Susanne Pollak und Christiane Schott. (Picus)
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