Sabine M. Gruber: "Beziehungsreise"


Die Enthüllung destruktiver Beziehungsmechanismen

Der Philosoph Sören Kierkegaard hat einmal gesagt: "Man kann das Leben nur rückwärts verstehen, aber man muss es vorwärts leben." Diesen Satz hat die in Klosterneuburg bei Wien lebende Schriftstellerin und Musikpublizistin Sabine M. Gruber ihrem Roman "Beziehungsreise" als Motto vorangestellt.

Erzählt wird die Geschichte einer Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau aus der Perspektive der Frau. Zehn Jahre hat diese Beziehung gedauert, und um zu verstehen, wie es zu dem dramatischen Ende kommen konnte, wird die Geschichte sozusagen rückwärts erzählt, eine Technik, derer sich übrigens auch Ilse Aichinger in ihrer bekannten "Spiegelgeschichte" bedient hat.

Sabine M. Gruber beginnt mit dem zehnten Jahr, als Sophia während einer der vielen gemeinsamen Urlaube des Paares von ihrem Freund Marcus brutal vergewaltigt wird. Sie hat die Chuzpe besessen, ihn, den Bibliothekar, der sich für einen begnadeten Rezensenten hält, zu bitten, das Manuskript ihres eigenen Romans, den sie heimlich geschrieben hat, zu lesen. Schon lange vorher, bevor Sophia Marcus kennengelernt hat, hat sie geschrieben, sich dann aber von einem Brief einer anderen Autorin, die den gleichen Namen trug, abschrecken lassen.
Spielt die 1960 in Linz geborene Sabine M. Gruber hier möglicherweise auf eine selbst erlebte Begebenheit an? Es gibt nämlich eine Schriftstellerin namens Sabine Gruber, die übrigens anno 2011 den Roman "Stillbach oder Die Sehnsucht" veröffentlicht hat.

Bereits zu Beginn des Buches fragt sich der von der ersten Seite an gebannt der Geschichte folgende Leser, warum sich Sophia die Beziehung zu einem solchen Mann, der regelrecht psychopathische Züge trägt, überhaupt antut. Noch im vorletzten Urlaub im zehnten Jahr glaubt sie, durch eine perfekte Urlaubsvorbereitung die Wende in ihrer Beziehung herbeigeführt zu haben:
"Stolz und erleichtert wird sie sein, ihre wichtigste Aufgabe erfüllt zu haben: Vergangenheit retten. Vergangenheit, die in kürzester Zeit mausetot wäre, würde Sophia sie nicht unermüdlich mit Gegenwart füttern. Denn alles Vergangene stirbt, sobald es nicht mehr durch Gegenwart genährt wird. Die Angst vor dem Tod der gemeinsamen Vergangenheit wird Sophia dazu treiben, immer neue Gegenwart mit Marcus zu schaffen."

Fragt man sich in herkömmlich aufgebauten Romanen in der Regel, wohin sich die Handlung entwickeln wird, wie sich die Protagonisten in Zukunft verhalten werden, wie sie das angedeutete Problem, den beschriebenen Konflikt, lösen werden oder auch nicht, denkt man beim Lesen dieses Romans sozusagen rückwärts. Wie ist es zu solch einer pathologischen Beziehung gekommen, voller Kälte und Gewalt seitens des Mannes, voller verzweifelter Versuche seitens der Frau, ihm alles recht zu machen und ihn ja nicht zu erzürnen?
Gab es in der Vergangenheit Phasen in dieser Beziehung, in der beide glücklich waren? Haben sie sich früher öfter getroffen? Denn Sophia, so wird bald klar, muss Marcus jeden Tag und jeden Stunde ihrer gemeinsamen Urlaube abtrotzen, sich mit einer rigiden Ordnung abfinden, die er aufgestellt hat und nach der gemeinsame Zeit kontingentiert wird.

Hat sie außer den raren und für sie immer wieder verletzenden Zeiten mit Marcus auch ein eigenes Leben, und wie sieht es aus?  Bald schon flicht Sabine M. Gruber sehr geschickt in die zurückerzählte Geschichte Anmerkungen ein, die dem Leser immer mehr offenbaren. Und je weiter die Geschichte rückwärts vorantreibt, wird sie fast auf jeder Seite eine an Dinge, die erst geschehen werden, die der Leser allerdings schon kennt, erinnernde Bemerkung machen.

Schon früh hat sich Sophia einem Psychotherapeuten anvertraut, der ihr - systemisch geschult - zwar gut zuhört und immer wieder Fragen stellt, sie jedoch überhaupt nicht weiterbringt. Immer wieder von Sabine M. Gruber in den Text eingebaute längere kursiv gedruckte Texte wirken wie Auszüge aus einem Lehrbuch für Psychiatrie und legen den Eindruck nahe, dass sich Sophia sehr wohl über die psychopathologische Natur des Charakters ihres Freundes Marcus im Klaren ist. Und man fragt sich, warum sich diese durchaus sympathische Frau das antut, zumal der schon ganz zu Anfang mehrfach erwähnte Georg sich als Sophias zuverlässiger Ehemann entpuppt, mit dem sie sehr glücklich verheiratet ist.

Es bleibt rätselhaft, warum sich Sophia über ein Jahrzehnt eine Beziehung mit einem Mann zumutet, dessen Charakter, das wird mit jedem weiter von Sabine M. Gruber zurückgeblätterten Jahr deutlicher, sie schon frühzeitig analysiert hat. Mehrfach wird sie von ihm schwanger, lässt jedes Mal abtreiben. Sie gibt ihr talentiertes eigenes Schreiben auf, um ihn, der niemals etwas Produktives zustande bringt, nicht damit zu provozieren. Als sie es am Ende, (im Buch am Anfang), doch tut, tut er ihr Gewalt an, und sie geht - endlich. Dennoch: "Sie wird Marcus' Wohnung verlassen und die Tür sorgfältig hinter sich zu ziehen. Er wird sie nicht zurückhalten. Sie wird auf den Lift warten, der sie nach unten bringen soll. Dabei wird sie wieder diese unerklärliche Angst haben, schon wieder und immer noch, diese Angst, die sie auch Jahre später noch ohne Vorwarnung und scheinbar anlasslos überfallen wird."

Sabine M. Grubers Roman ist eine von tiefem Verständnis für die weibliche Hauptfigur geprägte "Beziehungsreise", die von Jahr zu Jahr tiefer in die Vergangenheit führt, und den Leser erschüttert.
Dem Rezensenten erging es so: Von Jahr zu Jahr wurde seine Hoffnung, die zunächst stark war, immer schwächer, es könnte in der Vergangenheit von Sophia und Marcus irgendetwas geben, das ihr Zusammensein rechtfertigt. Und erst jetzt, mit einigem zeitlichen Abstand, beim Schreiben dieser Rezension, wird klar, dass die Hoffnung während der Lektüre eine Art Spiegelbild von Sophias Hoffnung war, es könnte sich in der Zukunft irgendetwas verbessern.

Fazit:
Ein aufwühlender, spannender Roman über die Abgründe einer Mann-Frau-Beziehung und über die fast tödlichen Fallen sich unterordnender weiblicher Liebe.

(Winfried Stanzick; 12/2012)


Sabine M. Gruber: "Beziehungsreise"
Picus, 2012. 222 Seiten.
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