Manfred Kühn: "Johann Gottlieb Fichte. Ein deutscher Philosoph 1762-1814"

Biografie


Fichte: Zwischen Kant und Hegel?

Der Name Fichte ist im Grunde ein Begriff, die Trias des deutschen Idealismus Fichte-Schelling-Hegel ist meist schnell zur Hand, doch wofür stand Fichte? Kantianer soll er gewesen sein, Teil der universitären jenaischen Hochblüte zur Zeit von Schillers dortiger Professur, dann die Demission wegen eines atheistischen Aufsatzes, Erlangen, Berlin, und am Ende hat er nationalistische Reden geschwungen. Verständlich, dass man mit diesem Wissensstand anlässlich des 250. Geburtstags begeistert nach einer neuen und umfangreichen Fichte-Biografie greift, die zudem von einem ausgesuchten Kant-Spezialisten geschrieben wurde. Denn Manfred Kühn, Professor der Philosophie an der Universität von Boston mit Schwerpunkt auf der Philosophie der Aufklärung, legte anno 2003 eine bedeutende Kant-Biografie vor und ist so geradezu prädestiniert, den Kant in vielfältiger Form verarbeitenden Fichte zu biografieren.

Philosophie dreht sich stets um die Beziehung zwischen dem Menschen und der Welt, dem Kosmos. Die mit den Menschen bevölkerte Erde steht gelegentlich inmitten konzentrischer Himmelsschalen, wie sich das die Vorsokratiker gedacht hatten, oder treibt bedeutungslos in einem von mehreren Universen, folgt man Giordano Bruno, der im Februar 1600 hierfür mit seinem Leben bezahlte. Gibt es einen Gott im Kosmos, oder ist dieser Kosmos gar mit Gott gleichzusetzen? Und welche Rolle spielt der Mensch?

Das wollte auch Fichte wissen. Seine so genannte Wissenschaftslehre handelt von diesen Fragen, doch nicht nur diese. Aufgewachsen in einer sehr religiösen Familie mit einem nicht zu Ende gebrachten Theologiestudium, hatte er die Welt sicherlich lange aus einer vorwiegend christlichen Perspektive betrachtet. Im Jahre 1790 fand gewissermaßen sein Erweckungserlebnis statt, als er in Leipzig einem Studenten in Privatvorlesungen die Kant'sche Philosophie näherbringen sollte, die er zu diesem Zeitpunkt selbst noch nicht kannte. Er begann sich einzulesen und gestand einem Freund offen ein, dass Kant Teile seines religiös konnotierten bisherigen Denkgebäudes zum Einsturz gebracht hatte. Ein Jahr später reiste er nach Königsberg, wo er Kant aufsuchte. In Königsberg begann er mit Arbeiten an der Schrift "Versuch der Critik aller Offenbarung", deren erste Auflage 1792 auf Vermittlung Kants in Königsberg anonym erschienen war und prompt für Kants 4. Kritik gehalten wurde. Doch dieser dementierte und gab den im westpreußischen Krockow weilenden "Candidaten der Theologie Hr. Fichte" als Autor an. Fichte war schlagartig berühmt, doch bevor er in der Provinz davon erfuhr, waren die ersten Rezensionen bereits erschienen, die dem Werk aber mehrheitlich die Kant'sche Klasse absprachen.

Ende 1793 erfolgte auf Goethes Drängen der Ruf auf den nach Reinholds Abgang vakanten Jenaer Lehrstuhl als Honorarprofessor der Philosophie. Doch er kam bald in den Geruch, Jakobiner zu sein.

Der berühmte Atheismusstreit wurde im Dezember 1798 durch einen Aufsatz Friedrich Karl Forbergs und Fichtes Stellungnahme "Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung" ausgelöst. Darin erklärten sie Gott und Religion zu einer moralischen Kategorie, die zur Erklärung der Welt nicht benötigt würde. Seine Demission ist letztlich die Folge seines ungeschickten Umgangs (durch arrogante Insulte, wie Herder das nannte) mit der Krise. Im Sommer 1799 reiste Fichte nach Berlin, wo er eine Zeitlang als Privatgelehrter wirkte.

Einige Zeitgenossen Fichtes waren der Meinung, dass er nach seinem Weggang aus Jena einen Großteil seiner spekulativen Kraft eingebüßt habe, wobei Kühn aber einwirft, es sei falsch, dass Fichte nur noch auf Andere reagiert habe: "In seiner Jenaer Periode wurde Fichte nicht ganz zu Unrecht als radikaler Kantianer angesehen, der die Philosophie nach strikten Prinzipien neu konzipieren und begründen wollte. In seiner Berliner Periode wurde er, wieder nicht ganz zu Unrecht, als ein Glaubens- und Weltanschauungslehrer gesehen. Diese Auffassung beruht in der Hauptsache auf seinen Veröffentlichungen zwischen 1800 und 1808: Die Bestimmung des Menschen (1800), Über das Wesen des Gelehrten, Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, beide 1806, und die Reden an die deutsche Nation von 1808. Der strikt philosophische Fichte der Wissenschaftslehre verändert sich zu einem populären Staatsprediger."

Der frühe Fichte kann stellenweise begeistern, so beispielsweise in der 1793 in Danzig erschienenen Schrift "Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische Revolution". Manfred Kühn schreibt hierzu: "Fichte beginnt mit einer scharfen Trennung von Sein und Sollen, von Fakt und Beurteilung, Geschichte und Recht oder von Sinnlichkeit und Vernunft, die alle seine späteren Werke bestimmen. Ob ein Volk das Recht hat, seine Verfassung zu verändern, kann keine Frage der Geschichte oder der Fakten sein. Es ist eine Frage des Sollens und der Vernunft. Wenn man sich auf Geschichte beruft und sie für relevant hält, so ist man durch 'geheime Täuschungen und Sinnlichkeit' verführt worden. Offenbar beruft man sich auf ihr Zeugniß, wenn man die Frage aus der Geschichte beantworten will. Es sei aber ein fundamentaler Fehler, wenn man Frage des Sollens mit Aussagen über das, was gemeinhin geschehen ist, beantwortet. 'Sollen' hat fundamental mit unserer Freiheit zu tun, anders handeln zu können, als es bis jetzt geschehen  ist. Erfahrung hat keine Autorität über das Sollen und Dürfen. Selbst Klugheit hat wenig damit zu tun. Es sind das Sittengesetz, das Gewissen, der innere Richter in uns und die Pflicht, die hier maßgeblich sind. Darum könne Fragen über die Rechtmäßigkeit einer Revolution nicht historisch, sondern müssen allein aus moralischen Gründen entschieden werden."

Fichte bildete mit Schelling und Hegel das Dreigestirn des "Deutschen Idealismus". Er war eine zentrale Figur des deutschen Geisteslebens zwischen 1793 und 1814, wie Kühn im Vorwort schreibt, doch auch voller Brüche und Divergenzen von Leben und Denken, keineswegs "aus einem Guss", wie Fichte sich selbst einst charakterisiert hatte. Während der junge Fichte ähnlich kraftvoll wie ein Aufklärer klang, kommt der späte Fichte eher wie Leibniz daher. Dass nur Gott wahrhaftes Sein habe, kann man kaum demselben Geist zuordnen, der Gott einst auf eine moralische Kategorie reduzierte.

Kühns Präsentation der Wissenschaftslehre Fichtes ist wirklich beeindruckend. Bei aller Kritik an Fichtes Werk, die er im Prinzip teilt, formuliert dieser Kühn zufolge doch ein eigenständiges System, das Leibniz'sche Monaden mit den Kant'schen Kategorien verknüpft. Doch Fichtes Wissenschaftslehre steht unter dem mächtigen Schatten möglicherweise gar intendiert mangelnder Verständlichkeit; sie war, ist und bleibt wohl weitgehend nur unter dem Erklärungsvorbehalt Dritter zugänglich. Und so wird Kühns Exegese vermutlich auch ihre Kritiker auf den Plan rufen.

Statt übertriebene Hoffnungen auf Fichtes Metaphysik und Methode zu setzen, wäre es besser, so lesen wir im Vorwort, "wenn man ihn als einen Problemdenker verstünde, der interessante Behauptungen über viele Probleme formuliert hat, die auch heutigen Philosophen noch als relevant erscheinen." Doch das gelang auch dem Rezensenten nicht, da Fichtes Persönlichkeit, seine johanneische Metaphysik und nicht zuletzt sein unsäglicher Nationalismus den Blick auf die Perlen Fichte'schen Denkens meist verstellte. Seine Grundlagen des Naturrechts enthalten manch interessanten Gedanken, doch auch Ansichten über die Geschlechter, die man bestenfalls als abstrus bezeichnen kann.

Fichtes methodische und persönliche Schwächen kann man sich im Zuge der Biografie deutlich erlesen. Seine Unleidlichkeit, seine unablässigen Injurien gegen Kollegen, seine Positionierung seines Systems als das einzig mögliche - Schopenhauer schrieb treffend: "er acquirirt also Infallabilität" - scheinen schon einzeln einer Eignung als Dekan einer philosophischen Fakultät zu widersprechen, von einem Rektorat nicht zu reden. Es erschloss sich dem Rezensenten nicht, wie Fichte diese Ämter der neu gegründeten Hochschule erhalten konnte.

Und so bleibt am Ende der Zweifel an Fichtes Bedeutung, aber das muss jeder für sich entscheiden. Doch mit dieser sehr werkbetonten Biografie hat man eine ausgezeichnete Informationsquelle in der Hand, handwerklich in bester Verlagsqualität.

(Klaus Prinz; 06/2012)


Manfred Kühn: "Johann Gottlieb Fichte. Ein deutscher Philosoph 1762-1814. Biografie"
C.H. Beck, 2012. 682 Seiten.
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Noch ein Buchtipp:

Wilhelm G. Jacobs: "Johann Gottlieb Fichte. Eine Biografie"

Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) ist einer der bedeutendsten deutschen Philosophen gleichrangig neben Kant, Hegel, Marx, und er ist der Vater des deutschen Idealismus, von größtem Einfluss auf das Kultur- und Geistesleben im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert und die deutsche Klassik. Aber dennoch ist der Verfasser der bahnbrechenden Wissenschaftslehre und der Reden an die deutsche Nation bis heute ein weitgehend Unbekannter. Seiner Mitwelt machte es Fichte nicht leicht: nicht nur durch seine mitunter schroffe Art, die er, aus einfachsten Verhältnissen stammend, als Schutzwall um sich errichtet hatte; auch mit seiner neuartigen Ich-Philosophie, die kaum einer seiner Zeitgenossen verstand. Seine Parteinahme für die Französische Revolution und seine unbestechliche Haltung im so genannten "Atheismusstreit" kosteten ihn seinen Lehrstuhl in Jena.
Dank neuer Forschungen ist es nun möglich, in einer seit langem überfälligen großen, umfassenden Biografie Fichte als den zu zeigen, der er war: ein hochbegabter, kompromisslos loyaler, verletzlicher Mensch, dessen Leidenschaft das Denken war, seit ihn die Begegnung mit der Philosophie Kants zu sich selbst gebracht hatte. (Insel)
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