Frank Meinshausen (Hrsg.): "Das Leben ist jetzt"

Neue Erzählungen aus China


Frank Meinshausen suchte in China nach den Autorinnen und Autoren der neuen Generation, das heißt nach denjenigen, die nach 1960 geboren waren und für die die Kulturrevolution keine bewusst erlebte Realität mehr darstellt. Diejenigen, deren Leben von der zunehmenden Verstädterung Chinas bestimmt wurde und die ihre sexuellen Beziehungen sowie Lebensentwürfe einer immer noch sehr stark zur Prüderie neigenden Umwelt anpassen mussten. 
Nach langem Hin und Her hat der Herausgeber dann elf Geschichten gesammelt von Dai Lai, Bi Feiyu, Zhu Wen, Han Dong, Ma Lan, Wu Chenjun, Huang Fan, Anni Baby, Zhao Ning, Wang Ai und Li Dawei.

Auf der Klappe wird darauf hingewiesen, dass im gegenständlich besprochenen Band das Schriftsteller- und das Künstlermilieu erforscht werden, und natürlich wird ebenfalls der Konflikt der Generationen anlässlich der Frage thematisiert, was denn nun wirklich Kunst oder Literatur sei, wie es etwa sehr deutlich in Dai Lais "Bist Du so weit?" dargestellt wird.
Ansonsten geht es aber in erster Linie um die Entdeckung der Sexualität als Objekt der individuellen Befreiung, was nicht unbedingt originell ist, und um all die unerfüllten Sehnsüchte, die nun Einsamkeit auf einem höheren technologischen Niveau erzeugen.

Letzteres bezieht sich in erster Linie auf Bi Feiyus "Fernsteuerung",  die Geschichte eines mitteljungen Mannes, der sein Gewicht über die 210-Kilo-Grenze gehievt hat und viele Fernbedienungen sammelt, um sich möglichst wenig bewegen zu müssen - und der sich dann bei einem Sexualkontakt selbst im Weg ist.

Überhaupt ist die Sexualität, wie so oft in eher zur Prüderie neigenden Gesellschaften, in den meisten der Geschichten ein Schwerpunktthema, womit der Abstand zu älteren Autoren wie Mo Yan, von denen sich der Herausgeber in seiner Auswahl eigentlich abgrenzen wollte, vergleichsweise gering ausfällt, und die brutalste Geschichte weit hinter Mo Yan oder auch Xun Kun zurückbleibt. Tatsächlich wirken einige Geschichten auch ein wenig überkünstelt und scheinen sich dabei in erster Linie an europäische Traditionen anzulehnen.

Sehr eigentümlich ist die Geschichte "China Wenxueshi Building" von Li Dawei, in welcher der modernere chinesische Literaturbetrieb mit seinen Bezügen zur westlichen Literatur auf etwas kafkaeske Art und Weise satirisch aufs Korn genommen wird. Sonst sind die Geschichten gegenüber anderen chinesischen - aber auch europäischen - Vorbildern nicht unbedingt auffällig und verlangen auch nicht zwingend nach so vielen Anmerkungen, wie man sie in den Endnoten von "Das Leben ist jetzt" findet.

Interessant ist sicherlich das Vorwort, in dem der Herausgeber seine persönlichen Erfahrungen beim Erstellen dieser Sammlung in China zum Besten gibt und aus dem man eigentlich eine Menge über die Entwicklung des Schreibens in China erfahren kann.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 03/2012)


Frank Meinshausen (Hrsg.): "Das Leben ist jetzt. Neue Erzählungen aus China"
Übersetzt von Frank Meinshausen.
Suhrkamp, 2003. 264 Seiten.
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