Wolfgang Hölzl: "Anton Bruckners Siebente Symphonie"

Von diastematischen Keimzellen zu tonalen Großraumstrukturen


Bruckner der Konstruktivist

"Zumal Bruckners Werke noch keine umfassende analytische Deutung erfahren haben, wird ihre Diskutierung seit eh und je von (teilweise sich verändernden, teilweise gleichbleibenden) Stereotypen beherrscht", schreibt der Autor etwas selbstbewusst und kühn auf Seite 24 des besprochenen Buches, womit er wohl nicht einmal so Unrecht haben dürfte. Nun denn, er hat zumindest teilweise Abhilfe geschaffen, weil: Erstmals liegt mit diesem Werk eine umfassende Formanalyse von Bruckners Siebenter Symphonie vor.

In der Tat ist es, wenn man die näheren Verhältnisse kennt, gar nicht überraschend, dass es eine solche bis dato noch nicht gegeben hat. Die musikwissenschaftlichen Forschungen verzetteln sich immer mehr in historischen und quellenkundlichen Fragen, eine, wie man meinen könnte, "Königsdisziplin" wie die Analyse von Form und anderen Parametern bleibt publizistisch mehr oder weniger ausgespart. So erscheint es auch wohl kaum nur als (was die bescheidenen Mittel der Aufmachung betrifft: höchst unglücklicher) Zufall, dass diese Arbeit bei keinem Musikverlag erschienen ist.

Und so, meint der Autor, muss man über Bruckner immer wieder denselben stereoptypen "blanken Unsinn" lesen, tatsächlich, er gebraucht diese harschen Worte "blanker Unsinn", noch dazu in Bezug auf eine der wohl weitest verbreiteten Aussagen über Bruckners Schaffen: dass sich nämlich seine Instrumentation vom Orgelklang ableite.
Dies stellt, so der Autor, das "allerhartnäckigste und auch ärgerlichste ... nur aus der Kenntnis gewisser biographischer Umstände ab[zu]leitende ... Stereotyp [dar]", eben "mehr oder weniger blanker Unsinn".

Diese Polemik von wegen "blankem Unsinn" ist wohl die radikalste und auch am aggressivsten vertretene These Hölzls. Aber immerhin ist seine Begründung dafür originell (wie sehr vieles in diesem Buch): Eine angebliche Verwurzelung im Orgelklang müsste beim frühen, orchestral unerfahreneren Bruckner stärker ausgeprägt sein als beim späten. In Wahrheit sei jedoch das Gegenteil der Fall, die frühesten Symphonien (f-moll und c-moll) zeigten keine diesbezüglichen Ansätze!

Die angebliche Registerhaftigkeit der Instrumentation beruht laut dem Autor auf Bruckners neudeutscher Abkehr von der Leipziger Gewandhausschule und dient einem schlankeren, durchsichtigen Klang, der unnötige Verdoppelungen weitgehend meidet und zudem seinem sich immer mehr herauskristallisierenden Personalstil geschuldet ist.

Auch was die derzeit führenden deutschen Brucknerforscher Steinbeck und Hinrichsen über Bruckner schreiben, ist laut Meinung des Autors zumindest zum Teil von Stereotypen geprägt. Des großen Musikschaffenden angebliche "Variantentechnik", das von Korte entdeckte "Mutations-" oder "Transformationsverfahren", das alles meint Begriffe, ohne die es sich besser auskommen ließe. Avant de construire il faut détruire, könnte man meinen. Allerdings bietet der Autor auch schon zu Beginn, also im ersten, das Gesamtwerk Bruckners betreffenden Kapitel, durchaus konstruktive wie neuartige Erklärungsmodelle für Bruckners Symphonik, vor allem was die überragende Bedeutung der Hauptthemen betrifft, in denen regelmäßig die bevorstehenden großformalen Prozesse sublimiert sind. Ein wesentlicher Gedanke, der meines Wissens noch niemals dezidiert ausgesprochen wurde, ist somit angesprochen, ehe er sich in weiterer Folge eingehend mit der Siebenten auseinandersetzt und darüber sein Gedankengebäude errichtet.

"Von diastematischen [dh tonhöhenbezogenen] Keimzellen und tonalen Großraumstrukturen" lautet der Untertitel des Buches, und in der Tat spielen Mikrozellen und Makroebenen in Hölzls Betrachtung eine gewichtige Rolle. Die wichtigste Mikrozelle ist nach Meinung des Autors nicht der "plakative" Themenbeginn mit seinem aufsteigenden Dreiklangsmotiv, sondern eine unmittelbar darauf folgende, unscheinbare und engstufige Viertongruppe, die in allen wichtigen Themen aller vier Sätze auftritt.

Für makrostrukturelle Zusammenhänge hingegen ist der sich in den letzten Thementakten abzeichnende Einbruch der B-Tonarten bestimmend, der eine Art Grundkonflikt des Werks darstellt. Das klingt beinahe militärisch, und tatsächlich lässt der Autor solche Assoziationen auch in einzelnen Kapitelüberschriften anklingen: "Parade der Themen", "Eskalation und Befriedung des zentralen Konflikts", "Die Entscheidung zugunsten der Kreuztonarten" oder "Der späte Durchbruch der Grundtonart" - wird da wirklich eine Symphonie beschrieben?

Alles in allem erkennt man die gediegene Ausbildung der Wiener Musikhochschule beziehungsweise Musikuniversität, die sich gewissen zeitgeistigen Strömungen stets zu widersetzen versteht. Müßiges, pseudointellektuelles oder sentimentales Geschwätz, wie es schon so oft über Bruckner niedergeschrieben wurde, ist nicht die Sache des Autors. Selbst in seinen kurzen, an und für sich nur wenig dazugehörigen Anmerkungen zur Achten und Neunten Symphonie Bruckners liegt weit mehr Informationsgehalt und formanalytische Erkenntnis als in manchen seitenlangen Aufsätzen, Elaboraten oder gar ganzen Büchern, wobei man hier nicht bloß an die in letzter Zeit bezeichnenderweise wieder etwas in Mode gekommenen Werke Ernst Kurths denken muss.

Alles in allem: eine höchst gelungene Werkanalyse von Bruckners Siebenter Symphonie, von welcher der (allerdings hinreichend vorgebildete) Leser nur zu profitieren vermag.

(Bruno Van der Walden; 01/2012)


Wolfgang Hölzl: "Anton Bruckners Siebente Symphonie.
Von diastematischen Keimzellen zu tonalen Großraumstrukturen"
AV Akademikerverlag, 2011. 172 Seiten.
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