Volker Reinhardt: "Geschichte und Kultur der Schweiz"

Von den Anfängen bis heute


Die Schweiz: Ein Mirakel wird erklärt

Volker Reinhardt ist Professor für Allgemeine und Schweizer Geschichte an der Universität Fribourg und Autor zahlreicher interessanter Publikationen mit einem gewissen Schwerpunkt auf der Geschichte Italiens und der Schweiz seit der Renaissance. Und nun schickt der Autor sich an, den Lesern die Schweiz zu erklären. Das scheint auch dringend geboten zu sein, denn, wenn man sich ein wenig umhört, stößt man im Allgemeinen recht schnell auf Klischees, wie das wohl für keine Region in unmittelbarer Nachbarschaft gilt. Somit stellen sich zwei Fragen: "Wie verlief die Geschichte denn wirklich?", und "Warum ist sie so klischeebedeckt?"

Die Einleitung diese neuen Werkes listet einige Besonderheiten und Irritationen des Schweizerbildes auf, die sowohl nach innen wie nach außen weisen. Man bestaunt allenthalben das selbstgenügsame und konfliktarme Zusammenspiel vierer Sprachgruppen - man denke au contraire aktuell nur an Belgien! -, die nicht nur sprachliche Eigenheiten aufweisen. Andererseits aber konnte man sich erst anno 2002 zu einem UN-Beitritt aufraffen, obwohl die Schweiz sage und schreibe elf UN-Organisationen beherbergt. Eine Volksabstimmung zum EU-Beitritt im Jahre 2001 erbrachte 77 Prozent Gegenstimmen. Aber die Schweiz war Gründungsmitglied der EFTA, der europäischen Freihandelszone. Andererseits: Ein Steuerparadies vergleichbar den Cayman-Inseln, dem man die Kavallerie schicken müsse, wie der deutsche Politiker Steinbrück drauflos polterte. Das Land der Basisdemokratie par excellence, das aber auch mit 57 Prozent für ein Minarettverbot stimmte. Soweit die wichtigsten Klischees.

Sofern man die Deutsche Geschichte auf Siegried von Xanten gründet, so darf man die Schweizer Geschichte auf Wilhelm Tell und den Rütlischwur stützen. Während wohl niemand ernsthaft in Siegfried einen Phänotypen deutscher Nationalidentität vermuten würde, verhält sich das mit Tell und der Schweiz anders - Schiller sei Dank. Doch wie lässt sich der Mythos der Bundesgründung der Schweiz historisch fassen?

Bürger aus Uri, Schwyz und Unterwalden (also Nid- und Obwalden) leisteten dem Schweizer Ur-Mythos zufolge auf der Rütliwiese am Vierwaldstätter See den Eid auf einen ewigen Bund, der gegen einen Feind von außen gerichtet war. Doch dieser Mythos zerbröckelte spätestens, als man den Tellstoff in Dänemark verorten musste. "Selbst das Text-Allerheiligste der Schweiz, der Bundesbrief vom August 1291", hat seine Authentizität eingebüßt. Immerhin bezieht sich der für 1315 gesicherte Morgartenbrief auch auf das Bündnis zwischen Uri, Schwyz und Unterwalden. Mitte des 14. Jahrhunderts wurde der Bund um das angrenzende Luzern sowie Zürich erweitert, es folgten Zug und Glarus sowie 1353 die Stadt Bern, die damals allerdings noch keine Autonomie von Österreich erlangte.

Das Bündnis der Waldstätte sowie Luzern und Zug wurde in dem sogenannten Pfaffenbrief von 1370 festgehalten, der jedoch u. A. auch regelte, dass "im Bundesgebiet ansässige fremde Kleriker keine auswärtigen Gerichte mehr anrufen" durften. Auch wenn das hehre Bundesrecht in der Praxis keineswegs umfassend gesichert werden konnte, so hatte dieser solidarische Pakt eine große symbolische Bedeutung.

Die Eidgenossen erkämpften sich ihre Freiheit jedenfalls gegen die Habsburger. Aber das Verhältnis der Städte gegen ihr eigenes Umland, die Landschaft, blieb nicht frei von Konflikten. Doch diese wurden meist mit Fingerspitzengefühl und mit praktischen Zugeständnissen gelöst, wenngleich Berns Bündnisvertrag mit den Waldstätten zu Anfang noch Beistand gegen potenzielle Aufrührer von innen beinhaltete. Berns eigene Expansionspläne gen Westen brachten auch reichlich Konfliktstoffe in das Bündnis mit ein. Während bei ruhigen Außenverhältnissen schon teils massive interne Reibereien zutage traten, funktionierte das Bündnis bei Bedrohung von außen tadellos. Das ist das Betriebsgeheimnis der Schweiz, was deren Geschichte die letzten 700 Jahre leitmotivisch durchzieht.

Der Schweizer Exportschlager dieser frühen Bündnistage waren Söldner, so genannte Reisläufer, die sich in Frankreich und Italien großer Nachfrage erfreuten. Bis in die heutigen Tage hat sich diese Tradition im Vatikan erhalten. Reislaufen war, so Reinhardt, ein Nationalmetier.

Als die Söhne des Habsburger Albrechts des Weisen dessen Territorium unter sich aufteilten, erhielt der ehrgeizige Herzog Leopold III. ein Territorium zugesprochen, das sich von Kärnten bis ins Elsass erstreckte. Als Luzern sich Sempach einverleibte, sah sich Leopold gezwungen, die gottgewollte Ordnung wieder herzustellen. Doch am 9. Juli 1386 erlitten Leopolds Mannen bei Sempach eine vollständige Niederlage, der Leopold selbst zum Opfer fiel, und bereits zwei Jahre später siegten die Glarner über ein überlegenes österreichisches Aufgebot, was beides natürlich den Schweizer Mythenschatz anreicherte. 1393 besiegelte der Sempacherbrief die Gemeinschaft der "Acht Alten Orte" der Städte Zürich, Luzern, Bern, Stadt und Amt Zug, die Länder Uri, Schwyz, Unterwalden und Glarus sowie Solothurn, die die Schlacht von Sempach als einen Akt der Notwehr gegen die habsburgische Unterdrückung rechtfertigte. Daneben wurden in diesem Brief Aspekte des Handels sowie Kriegs- und Solddienste geregelt.

Das mag als Beispiel genügen, denn so komplex geht es weiter bis ins 19. Jahrhundert. Die Schweiz machte alle europäischen Umbrüche mit, auf ihre Art. Alle revolutionären Bewegungen Westeuropas wirkten sich aus, die 1789er-Revolution, die Restauration nach 1815, die 1830er-Unruhen und die 1848er-Revolution. Doch letztere war in der Schweiz schon zu Ende, bevor sie im restlichen Europa einsetzte. Es ging auch den Schweizern nicht darum, eine Verfassung durchzusetzen, denn die hatte die Schweiz längst, und sie war völlig unstrittig. Es ging bei diesen Auseinandersetzungen nur um Inhalte.

Wie Volker Reinhardt an vielen Beispielen vorführt, ist die Schweizer Geschichte durchzogen von den Konflikten zwischen den mächtigeren Städten und der jeweiligen Landbevölkerung. Während sich die städtischen Führungsschichten Privilegien herausnahmen, sah es die Landbevölkerung nicht selten als ihre Aufgabe an, die Städter wieder zu erden.

Das europäische Prinzip von Reform und Gegenreform lässt sich auch in der Schweiz über Jahrhunderte hinweg beobachten. Modernisierende und retardierende Strömungen, rechtsstaatlicher Republikanismus und gewohnheitsrechtlicher Traditionalismus. Doch die Frontlinien verlaufen nicht immer entlang der Religionsgrenzen, vielmehr sind wechselnde Zweckbündnisse in unerwarteten Koalitionen zu entdecken.

Schaut man sich die Schweiz aus der Nähe an, so löst sich die äußere scheinbare Homogenität recht schnell auf. Zonen verschiedener Religionen wechseln sich ebenso ab wie rurale Regionen und urbane Zentren, Almwirtschaften und Industriezonen, ein proeuropäischer romanischer Westen, ein urhelvetischer Kern aus Uri, Schwyz und Unterwalden, der rätoromanische Südosten, der frankophone Westen, zwei italienische Zipfel im Süden und der große (schwyzer-)deutschsprachige Rest.

Alle Momente der zeitgenössischen europäischen tragedie humaine fanden sich im Prinzip zu allen Zeiten auch in der Schweiz wieder, aber mit dem Unterschied,  dass sich die Schweiz auf eine lange Tradition des friedlichen Zusammenlebens von Sprache und Kulturen gründet, die wohl der "Virtuosität der Kompromissfindung" zu verdanken ist, wie Reinhardt betont.

Bei dem Buch handelt es sich wieder um einen typischen Reinhardt. Es gibt wenige Autoren, die es vermögen, solch kleinteilige Elemente so konzise und dennoch lesbar aneinanderzureihen. Aber das durchschnittliche Lesetempo geht bei diesem Werk gegenüber vergleichbaren Büchern wohl etwas zurück, und zwar aufgrund der hohen Faktendichte. Und so ist man mit den 500 Seiten schon ein wenig beschäftigt.

Die eingangs gestellten Fragen lassen sich mithilfe des Buches beantworten, denn am Ende verfügt man über einen grundsolide Übersicht über die Schweizer Geschichte. Man weiß also, wie die Schweiz das geworden ist, was sie ist. Und die Frage nach der Ursache für die große Klischeedichte in den Köpfen lässt sich mit der unerwarteten Komplexität der Schweizergeschichte, wie sie selbstbewusst genannt wird, und dem fehlenden Wissen um die Zusammenhänge erklären. Doch dem kann mit dem vorliegenden Buch ja nun abgeholfen werden, einer wirklich vorzüglichen Publikation, die wohl schnell den Rang eines Standardwerkes zur Schweizer Geschichte einnehmen wird.

Neben dem vorliegenden Band erschien im Dezember 2010 in 4. überarbeiteter Auflage eine "Kleine Geschichte der Schweiz" betitelte Publikation in der Reihe "C.H.Beck Wissen". Es handelt sich aber um zwei eigenständige Publikationen. Man kann diese Eigenständigkeit beispielsweise daran erkennen, dass in dem deutlich kleineren Band der "Wissen"-Serie durchaus Namen zu finden sind, die in der deutlich voluminöseren Neuauflage einfach fehlen. So ist es durchaus sinnvoll, beide Bände quasi parallel zu lesen.

(Klaus Prinz; 08/2011)


Volker Reinhardt: "Geschichte und Kultur der Schweiz. Von den Anfängen bis heute"
C.H. Beck, 2011. 512 Seiten.
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Georg Kreis: "Die Schweiz im Zweiten Weltkrieg"
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"Schweizer Küche" zur Rezension ...

Martin Weiss: "Urchuchi Tessin und Misox. Südschweizer Restaurants mit Geschichten und Gerichten Tessin und Misox"
Kennen Sie Zincarlin, den gepfefferten Frischmilchkäse aus dem Valle di Muggio? Oder Cicitt, die Ziegenwurst aus dem Maggiatal? Wissen Sie, wer die beste Polenta kocht, wo das Gitzi am zartesten, die Kastaniensuppe am sämigsten und der Merlot am fruchtigsten ist?
Im zweiten Band der Urchuchi durchforscht Martin Weiss die Sonnenstube der Schweiz und stellt gemütliche Restaurants, lauschige Grotti und authentische Tessiner Produkte vor - ein lebendiges Schaufenster der farbenfrohen, genussreichen Esskultur des Tessins.
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Auch in der Tessiner Urchuchi finden sich wieder authentische Rezepte (ca. 120), die zum Nachkochen und Genießen einladen, von der Torta di pane, der Büsecca über die Gnocchi di castagne bis zur Polenta rossa. (Rotpunktverlag)
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