Michail Schischkin: "Venushaar"
"Warum haben Sie Asyl beantragt?"
Michaeil Schischkins Debütroman "Venushaar" ist ein vielschichtiges Meisterwerk.
Ein Roman, der den Leser von der ersten Seite weg fesselt und in einen
wahren Mahlstrom von Ereignissen und verschiedensten Ideen, die unter Anderem
auch ein Panorama Russlands bzw. der Sowjetunion im zwanzigsten Jahrhundert
sind, zieht und am Ende in einem unerwarteten Finale, das dann doch
Stränge zusammenführt, die man nicht zusammengeführt erwartet hätte, gipfelt.
"Warum haben Sie Asyl beantragt?"
Diese Frage stellt der Übersetzer täglich
verschiedenen Antragstellern. Über diese Frage gleitet seine Fantasie permanent ab, bald verschwimmt die
Grenze zwischen Realität und Wahn.
Abwechselnd dazu wird die Lebensgeschichte des Übersetzers
erzählt, das Abhandenkommen seiner Frau und seine darauf folgende Immigration in die
Einsamkeit. Noch ein Erzählstrang beginnt damit, dass "dem
Dareios und der Parysatis wie Söhne geboren wurden, Artaxerxes und Kyros ..."
und führt den Leser in die Kriegsreportage des Xenophon ("Anabis", um 370 v. Chr.)
ein. Dieser Erzählstrang wird fast unabhängig entwickelt,
bis er schließlich Teil des Finales wird. Ein weiterer, nicht unwesentlicher
Erzählstrang sind die Tagebuchaufzeichnungen einer russischen Sängerin, die vom
kleinen Mädchen bis zum Lebensende das Symbol, die Vertretung Russlands (bzw. der
Sowjetunion) im zwanzigsten Jahrhundert, übernimmt.
Herrlich ist, wie virtuos und gewandt Michael Schischkin hier die
verschiedenen Erzählstränge mit unterschiedlichsten Stimmungen und
Farben ausstattet. Von der insistierenden Frage- und Antwortprosa, die sich immer wieder von
sich selbst loslöst und sich quasi von der eigenen Idee
verselbstständigt, bis sie
unter Anderem plötzlich eiskalt und messerscharf die
Zustände in Tschetschenien und anderen Krisenregionen Russlands erzählend
zuschlägt; bis hin zur kindlichen Naivität der Tagebucheinträge des
jungen Mädchens. Das ist abwechslungsreiche, intensive Prosa, die im Dienst der Aussage und der
Erzählung steht.
Immer wieder assoziiert Schischkin, spielt er auf andere literarische
Werke, auf die Geschichte, auf die Mythologie
an, zitiert aus russischen
Märchen und griechischen Heldensagen; das geschieht fein und diskret. Man dankt dem
wunderbar informativen Glossar für die Hilfe bei der
Dechiffrierung der teilweise sehr versteckten Botschaften.
Nie hat der Leser das Gefühl, dass Michail Schischkin sich im
selbstgestrickten Labyrinth seiner Ausführungen und Erzählungsriten
verlieren könnte, so sicher und überzeugend wird man von dieser großartigen
Prosa absorbiert und gefesselt.
Während die Tagebucheinträge vordergründig
fast banale Themen behandeln (Schule, erste Liebe, Moralfragen, das Auskommen mit den Eltern, die
Situation der Deutschstämmigen im Russland des Ersten Weltkrieges, den
Verlust von unschuldigen oder sündhaften Lieben), von der Standhaftigkeit
bis hin zum Opportunismus und somit die Tagebuch führende
Sängerin ihre Entwicklung an der
Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts in Russland
messen lässt, wird dieser
Erzählstrang zu einem Gesellschaftsbild vom Feinsten. Mit dem
Fortschreiten des Romans führen die Frage- und Antwortserien den
Übersetzer immer weiter ins
Innere der Selbstzweifel, bis auch hier die Realität so sehr
ins Wanken gerät,
dass am Ende jegliche Grenzen zwischen den
Erzählsträngen komplett fortgefegt
werden können und alle Erzähllinien in einem grandios
polyphonen Geflecht von Stimmen in einem grandiosen Finale münden können.
Das ist erzähltechnisch und formal auf so beeindruckende Art
und Weise gelöst, dass man als Leser die Lektüre nach den letzten Worten einfach
noch einmal von Neuem beginnen möchte.
Michail Schischkins Roman "Venushaar" ist ein absoluter Wurf, wie
immer von Andreas Tretner kongenial aus dem Russischen
übersetzt.
(Roland Freisitzer; 04/2011)
Michail Schischkin: "Venushaar"
(Originaltitel "Venerin volos")
Aus dem Russischen von Andreas Tretner.
Gebundene Ausgabe:
DVA, 2011. 555 Seiten.
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Digitalbuchausgabe:
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Michail Schischkin wurde 1961 in
Moskau geboren, studierte Linguistik und unterrichtete Deutsch. 1995
emigrierte er in die Schweiz, wo er u. A. als Dolmetscher für die
Einwanderungsbehörde arbeitete.
Weitere Bücher des Autors:
"Auf den Spuren von Byron und
Tolstoi. Eine literarische Wanderung von Montreux nach Meiringen"
1816 entflieht Byron
- nach dem Skandal um seine Liebe zu seiner Halbschwester
Augusta - trotzig an den Genfersee. 1857 sieht Tolstoi in Paris, wie ein Mensch
guillotiniert wird, und flieht schockiert in die
Schweiz. Beide wandern sie vom
Genfersee ins Berner Oberland, und beide führen sie dabei Tagebuch, über
Landschaft, Tod, Liebe, die Schweiz.
2001 wandert Michail Schischkin auf ihren Spuren dieselbe Strecke. Er liest ihre
Tagebücher und führt ein eigenes. Seine Füße wandern, seine Gedanken wandern. In
sieben Wandertagen entstehen ein Buch und eine Welt, Schischkins Welt. Ein
überraschendes und reiches Buch über zwei ungleiche Länder, über Byron und
Tolstoi,
Tell und
Stalin, das Berner
Oberland und Tschetschenien, Touristen, Flüchtlinge, Literaten, Terroristen,
Denkmäler, Berge - über Wandern und Leben, Tod und Literatur. (Rotpunktverlag)
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"Die Eroberung von Ismail" zur Rezension ...
"Briefsteller"
Eine Frau, ein Mann, eine Sommerliebe. Sascha und Wolodja werden durch einen
Krieg getrennt und können sich nur Briefe schreiben. Sie erzählen einander darin
von allem und jedem: von Kindheit, Familie, Alltag, von Freud und Leid. Ein
normaler Briefwechsel zweier Liebender - bis sich beim Leser Zweifel regen und
klar wird, dass die Zeit der beiden verrückt ist, dass sie durch Raum und Zeit
getrennt sind. Sie lebt in der Gegenwart, er kämpft im
Boxeraufstand zu Beginn
des 20. Jahrhunderts gegen chinesische Rebellen. Er stirbt in einem der ersten
Gefechte dieses halb vergessenen Krieges, aber seine Briefe kommen weiterhin an.
Sie heiratet, verliert ein Kind - und schreibt ihm unbeirrt weiter, als ob eine
Parallelwelt bestünde, als ob die Zeit keine Rolle spielte, ebenso wenig wie der
Tod.
Ein großer, anrührender Liebesroman, der die grundlegenden Fragen der
menschlichen Existenz behandelt und der durch die Macht des Wortes die Gesetze
von Zeit und Raum außer Kraft setzt. (DVA) zur Rezension ...
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