Marie-Sabine Roger: "Das Labyrinth der Wörter"


Eine völlig neue Welt

Germain Chaze hat es nicht leicht. Er ist zwar sehr groß und stark, aber nicht besonders schlau, und mit sehr eingeschränkter Lesekompetenz sowie ohne jeden Schulabschluss hat er es im Leben nicht sonderlich weit gebracht. Er lebt in einem Wohnwagen auf dem Grundstück seiner extrem jähzornigen Mutter, die ihm immer wieder sein mit viel Liebe gezogenes Gemüse stiehlt, und verbringt seine Abende oft mit einigen Bekannten in der Kneipe, wo er meist aufgrund seiner Dummheit als Unterhaltungsgrundlage gilt.

Wenn er nichts zu tun hat, geht er zwischendurch auch gern in den Park, um die Tauben zu zählen. Eines Tages begegnet er dabei auf "seiner" Bank einer älteren Dame, die gleichfalls die Tauben zählt, während sie diese füttert. Nach Germains anfänglicher Irritation kommen die beiden miteinander ins Gespräch, und schnell entwickelt der 45-jährige Kindriese eine gewisse Zuneigung zu der alten Marguerite, die ihre Zeit mit Vorliebe im Park verbringt, um dort die Natur zu genießen und um etwas zu lesen. Und so liest sie dann eines Tages Germain einige Passagen aus Albert Camus' "Die Pest" vor.

Die Worte mit ihrem Reichtum an rhetorischen Mitteln - und Marguerites Erklärungen dazu - beginnen den Mann zu verändern, und nachdem sein Geist jahrzehntelang brachgelegen ist, beginnt sich nun sein Denken zu regen, und es ist "wie ein Ständer im Kopf". Plötzlich beginnt Germain, sein Leben und sich selbst zu hinterfragen und auch seine Freundschaften und Familienbeziehungen. Er fängt an, Literatur aus einem Blickwinkel zu beschreiben, der deutlich von seinen eigenen Lebenserfahrungen als "Dummkopf" gekennzeichnet ist.

Eines Tages erfährt Germain, dass seine Vorleserin ihr Augenlicht verliert und muss sich nun auf den Weg machen, die Gefilde der Literatur selbst zu erkunden - nicht nur für sich, sondern auch, um seiner Freundin in Zukunft vorlesen zu können.

Fazit:
Ein wunderbares und poetisches Buch über das Lesen und Lernen, über das Älterwerden und die Veränderung, über das Wachsen zu Zeitpunkten, zu denen schon alles zu spät zu sein schien. Und über Hilfsbereitschaft, die selbstlos ist, wie auch immer man sie im Nachhinein für sich selbst rational fassbar zu machen sucht. Eine wahre Leseoffenbarung.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 05/2011)


Marie-Sabine Roger: "Das Labyrinth der Wörter"
(Originaltitel "La tête en friche")
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer.
Gebundene Ausgabe:
Hoffmann und Campe, 2010. 208 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2011. 221 Seiten.
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Marie-Sabine Roger wurde 1957 in Bordeaux geboren, lebte lange in Südfrankreich und ist im Jahr 2011 nach Kanada umgezogen. Sie arbeitete einige Jahre als Grundschullehrerin, ehe sie sich ganz der Schriftstellerei widmete. Ihr Roman "Das Labyrinth der Wörter" wurde in Frankreich und Deutschland ein Erfolg. Das Buch wurde mit dem "Prix Lycéens des Allemands" und dem "Prix Inter-CE" ausgezeichnet und mit Gérard Depardieu und Gisèle Casadesus in den Hauptrollen verfilmt.

Ein weiteres Buch der Autorin:

"Der Poet der kleinen Dinge"

Gérards ganze Liebe gilt der Poesie. Doch leider kann er seine Leidenschaft mit niemandem teilen, da er aufgrund einer Behinderung weder schreiben noch richtig sprechen kann. Nur die Herumtreiberin Alexandra versteht ihn und nimmt ihn ernst. Und da Gérard auch sonst wenig vom Leben hat, schmiedet Alexandra einen abenteuerlichen Plan.
Alexandra lebt aus dem Rucksack, arbeitet auf einer Hühnerfarm und hat am Bruder ihres Vermieters einen Narren gefressen: Gérard leidet am Down-Syndrom und stellt jede Menge Unfug an, aber er trägt das Herz am rechten Fleck. Und Alexandra traut ihren Ohren nicht, als er eines Tages beginnt, ihr selbstkomponierte Gedichte vorzutragen ...
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