Salvatore Niffoi: "Die barfüßige Witwe"


Dieser Roman des auf Sardinien geborenen und lebenden Schriftstellers Salvatore Niffoi entführt seine Leser in die raue und von archaischem Denken geprägte Welt seiner Heimat.

Eine Welt, die Menschen und eine Kultur hervorbringt, die so ist wie die Insel und ihre Lebensverhältnisse selbst: hart um ihr Leben kämpfend, obwohl katholisch, sehr dem Aberglauben verhaftet.

Es herrscht das Gesetz der Blutrache, und auch die katholische Kirche wirkt kräftig mit, indem sie Teufelaustreibungen nicht nur duldet, sondern unterstützt. Die Sexualität der Menschen ist ebenfalls rau und hart, und sie dominiert das Leben mehr als von außen sichtbar ist.

Der Roman erzählt die Geschichte von Mintonia und ihrer Liebe zu dem Rebellen Micheddu. "An einem Junimorgen brachten sie ihn mir nach Hause, abgeschlachtet und mit Axthieben zerlegt wie ein Schwein. Kein einziger Blutstropfen war ihm geblieben."
So beginnt Mintonia ihre Aufzeichnungen, die sie verfasst, lange nachdem sie weit über den Ozean nach Argentinien ins Exil gegangen ist. Im Jahr 1985 schickt sie diese Aufzeichnungen ihrer Nichte Itriedda Murisca, die das Tagebuch ihrer Tante atemlos liest und einen Teil ihrer eigenen Familiengeschichte zu begreifen beginnt.

Kaum sechzehnjährig, es ist die Zeit zwischen den beiden großen Kriegen, die Europa verwüstet haben, verliebt sich Mintonia in den Schafhirten Micheddu. Micheddu ist ein Rebell. Er wehrt sich gegen die Obrigkeit, ist auch dem faschistischen Regime Mussolinis und seinen Schergen in den sardinischen Städten und Dörfern gegenüber widerständig.

Nachdem die beiden, die leidenschaftlich und verboten ihre gegenseitige Liebe und ihre Körper entdecken, alle möglichen Widerstände überwunden haben, und ihre Liebe vor den Eltern und der Öffentlichkeit verteidigen, wird jedoch schnell klar, dass Micheddu wie ein Vogelfreier lebt. Dauernd muss er sich vor der faschistischen Obrigkeit in Acht nehmen, verstecken und manchmal auch flüchten. Nachdem er anno 1935 endgültig geflohen ist, wird Mintonia fast täglich von Hausdurchsuchungen und anderen Schikanen heimgesucht. Doch sie hält tapfer durch. Im Jahr 1938 an einem Junimorgen wird ihre Hoffnung zuschanden. Die Faschisten bringen den übel zugerichteten Leichnam Micheddus und legen ihn ihr vor die Tür. Ab dieser Sekunde verwandelt sich ihre leidenschaftliche Liebe in ein ebenso leidenschaftliches Bedürfnis nach Rache. Und als sie nach langer Planung, sich selbst und ihren Körper einsetzend, endlich Rache genommen hat, muss sie fliehen ...

"Die barfüßige Witwe" ist ein kraftvoller Roman aus einer Kultur, die nach wie vor archaische Elemente aufweist. Es ist aber auch ein Roman über den Widerstand kleiner Leute gegen das faschistische Regime in Italien in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts.
Salvatore Niffoi hat mit diesem Buch seiner Heimat und ihrer Kultur ein sprachgewaltiges Denkmal gesetzt.

(Winfried Stanzick; 04/2011)


Salvatore Niffoi: "Die barfüßige Witwe"
(Originaltitel "La vedova scalza")
Übersetzt aus dem Italienischen von Andreas Löhrer.
Zsolnay, 2011. 203 Seiten.
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Salvatore Niffoi wurde 1950 in Orani, Sardinien, geboren. Sein erster Roman erschien im Jahr 1997. Anno 2006 erhielt er für "Die barfüßige Witwe" den "Premio Campiello".

Ein weiteres Buch des Autors:

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