Herbert Renz-Polster: "Menschenkinder"

Plädoyer für eine artgerechte Erziehung


In diesem Buch bezieht sich der Autor in erster Linie auf die Titel von Bueb ("Lob der Disziplin"), Chua ("Die Mutter des Erfolgs") und Winterhoff (die "Tyrannen"-Bücher), die in den letzten Jahren durch ihr Plädoyer für ein autoritäreres Vorgehen in der Erziehung aufgefallen sind. Dabei stellt er besonders und sehr intensiv auf die Jura-Dozentin Amy Chua ab, die ihr Buch - gerade im letzten Drittel - aber wohl eher als ein Bekenntnis ihrer eigenen Fehler beschreibt denn als ein Rezept für den Erfolg Anderer. Auch wenn sie zu Beginn viel gegen die westlichen Erziehungsmethoden zu sagen hat, so nimmt sie gegen Ende auch immer mehr von ihrem eigenen Vorgehen Abstand und beschreibt immer wieder ihr persönliches Gefühl der Hilflosigkeit beim Versuch, ihre Vorstellungen gegenüber ihren Töchtern durchzusetzen - und lässt diese auch am Ende zum Thema zu Wort kommen. Diese Tendenz und diesen Aspekt des Buchs ignoriert Renz-Polster - wie so viele andere Kommentatorinnen und Kommentatoren - beinahe vollständig.

Aber auch seine grundlegenden Überlegungen zur evolutionsbiologischen Betrachtung sind zu hinterfragen. Die oft als Beispiel genommenen Kung leben in deutlich kleineren Gruppen, als wir dies in Städten heute tun, in einer vergleichsweise geringeren Komplexitätsmatrix, was ihr soziales Umfeld angeht, und sie sind wahrscheinlich genauso wie die Jäger und Sammler von vor 10.000 Jahren oder mehr, wie die Schimpansen Prototypen von Menschen sind. Gar nicht. Denn sowohl die Schimpansen wie auch die Kung haben sich in den letzten Jahrzigtausenden weiterentwickelt. Und Schimpansen kümmern sich - ähnlich wie Menschen - ebenfalls oft gemeinschaftlich um ihren Nachwuchs, wie Goodall und auch Andere bereits vor Längerem veröffentlicht haben und was der Autor hier verneint. Die Sesshaftwerdung vieler Menschen auf vor etwa 4000 Jahren zu legen, ist aus Historikersicht gleichfalls fragwürdig.

Außerdem macht der Autor sehr viele Aussagen zum Verhalten von Menschen in Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften, die höchst spekulativ sind, da nun einmal mehr oder minder komplexe Verhaltensweisen eigentlich nicht Bestandteil des sowieso meist sehr dürftigen archäologischen "Beweismaterials" sind. Hier werden - wie an anderen Stellen auch - Dinge als gegeben und bewiesen hingestellt, die das beileibe nicht sind. Aussagen über deutsche und andere Schulen - besonders im Vergleich mit etwa finnischen - werden extrem verkürzt und populistisch geführt, der natürliche Drang zur Konkurrenz, der andere "Naturvölker" als die von Herbert Renz-Polster erwähnten dazu bringt, sehr erfolgreiche Jäger bewusst zu erniedrigen, damit diese nicht zu viel Einfluss gewinnen, der oft zu sehende Konkurrenzwille von Kindern und Jugendlichen im Spiel stehen hier seinen Aussagen entgegen.

Wenn man die eigentlich lobende Ausgangsidee dieses Buchs sieht, nämlich Licht in den Dschungel der Erziehungsratgeber zu bringen, so wurde hier (um einmal ordentlich Metaphern zu mischen) das Wasser eher zusätzlich getrübt. Und wenn man sich auf eine evolutionsbiologische Ebene begibt, dann sollte auch die Frage gestellt werden, inwiefern hohe Kindersterblichkeit, häufige Fehlernährung und Fressfeinde sich auf den Umgang mit den Kindern und auf deren Lebensqualität ausgewirkt haben. Denn heute überleben wesentlich mehr Kinder die Kindheits- und Jugendtage als früher. Inwiefern Kinder früher seelisch gesünder gewesen sind, lässt sich de facto nicht beurteilen, weil es dazu früher keine Erhebungen gab, in Ermangelung einer psychologischen Forschung und einer regelmäßigen statistischen Erfassung von großen Stichprobengruppen, was auch heute immer noch eine Ausnahme darstellt.

Daneben gibt es auch noch bevölkerungspolitische Ausflüge, die sich - sehr kurz - mit dem vielzitierten Aussterben der Deutschen und anderer westlicher Nationen beschäftigen. Hierbei wird aber vernachlässigt, dass gerade erst Bevölkerungsexperten vor einem weiter anhaltenden rasanten Anstieg der Weltbevölkerung gewarnt haben, (was ebenfalls zu hinterfragen sein dürfte), und dass eigentlich die Geburtenraten in vielen Ländern dank steigender Literazität der Frauen rückläufig sind - auch auf dem afrikanischen Kontinent.

Sicher muss man Bildung und Versorgungsnetze für Kinder noch verbessern und zum Teil auch umstrukturieren, aber dies lässt sich auch anders und argumentativ schlüssiger begründen, als es in "Menschenkinder" geschehen ist.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 10/2011)


Herbert Renz-Polster: "Menschenkinder. Plädoyer für eine artgerechte Erziehung"
Kösel, 2011. 191 Seiten.
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Dr. med. Herbert Renz-Polster, geboren 1960, ist Kinderarzt und Wissenschaftler am Mannheimer "Institut für Public Health" der Universität Heidelberg.