György Dalos: "Gorbatschow"

Mensch und Macht. Eine Biografie


Den Kalten Krieg beendet zu haben, versuchen sich seit jeher viele als ihren Erfolg anrechnen zu lassen, doch die wohl tragischste Persönlichkeit dieser weltpolitischen Wende ist Michail Sergejewitsch Gorbatschow, der Mann, dessen Versuche, die Sowjetunion vor dem Zerfall zu retten, schlussendlich nur ihren Untergang beschleunigten. Es ist indes Gorbatschow zu verdanken, dass der Untergang der Sowjetunion nicht in einem Blutbad endete, wie es viele seiner Vorgänger noch bedenkenlos in Kauf genommen hätten, sobald sich irgendwo auch nur der geringste Widerstand gegen das Regime zu regen begann. Als Gorbatschow am 25. Dezember 1991 auch als Präsident der Sowjetunion zurücktrat, endete nicht nur seine politische Karriere, sondern mit dieser auch das sowjetische System, nachdem die KPdSU am 24. August des Jahres auf Druck Boris Jelzins bereits unionsweit verboten worden war. Anno 2011 ist all das schon 20 Jahre her und Grund genug, auf diese Wende der Weltgeschichte zurückzublicken.

Dass György Dalos den Wert historischer Daten und Jubiläumsjahre zu schätzen weiß, hat er bereits im Jahr 2009 bewiesen, als er anlässlich des Falls des Eisernen Vorhangs 1989 mit "Der Vorhang geht auf" das Ende der Diktaturen in Osteuropa beschrieb. 2011 hat er sich mit "Gorbatschow: Mensch und Macht" biografisch jenem Mann gewidmet, dessen Name zum Synonym für den gescheiterten Versuch geworden ist, das sowjetische System mittels einer ehrgeizigen Reformpolitik aus Perestroika (Umbau) und Glasnost (Offenheit) trotz aller Widrigkeiten zu retten. Doch den westlichen Leser überrascht es immer wieder, dass der Friedensnobelpreisträger des Jahres 1990 und international in hohen Ehren gehaltene Ex-Staatsmann in seiner Heimat vorwiegend verschmäht wird, auch wenn er als Netzwerker heute immer noch eine nicht unbedeutende Rolle spielt.

Um ein Schlaglicht auf Gorbatschows ambivalente Beurteilung zu werfen, hat György Dalos zur Eröffnung seiner Gorbatschow-Biografie eine Schlüsselszene aus dem Putschversuch im August 1991 gewählt. Ein in seiner staatlichen Datscha auf der Krim-Halbinsel samt seinen Angehörigen gewissermaßen zur Geisel der eigenen Staatssicherheit gewordener Gorbatschow weigerte sich dennoch, vor den Putschisten, deren Aufstieg er selbst begleitet hat, nachzugeben und die Macht abzugeben. Für kurze Zeit schien es, als könnten die Putschisten ihren Forderungen auch mit Gewalt Nachdruck verleihen, doch der längst ins Kreuzfeuer der von ihm befreiten Presse Geratene überlebte, wenn auch nicht politisch.

Doch wie kam es dazu, dass der Junge vom Land, dessen Vater Techniker einer Traktorenstation Stawropols war, schlussendlich zur zentralen Figur beim Untergang der UdSSR werden konnte? György Dalos spürt dieser Frage nach und verfolgt daher zunächst die Entwicklung Gorbatschows, der ähnlich wie sein späterer Konkurrent Boris Jelzin durch die in der Breschnew-Ära forcierte Ausbildung des geistigen Nachwuchses der Union trotz mangelnder Qualifikationen mit 19 von der juristischen Fakultät der Universität Moskau aufgenommen wurde. Doch eine Karriere in der Staatsanwaltschaft war dem jungen Juristen nicht vergönnt, als er schon bald vom Komsomol angefordert wurde. Obwohl mit seinem geisteswissenschaftlichen Hintergrund in der Provinz nicht unbedingt für höhere Weihen prädestiniert, sollte er 1970 doch zum Ersten Sekretär und damit regionalen Parteichef Stawropols avancieren (eine Machtposition, die mit der eines zaristischen Gouverneurs vergleichbar war). Seine Verantwortung für eine vorwiegend agrarisch geprägte Region ebnete ihm in der Folge schon 1971 den Weg, um als Agrarexperte in das Zentralkomitee aufrücken zu können. 1979/80 sollte es Gorbatschow sogar gelingen, in das Politbüro befördert zu werden, wobei Biograf Dalos festhält, dass Gorbatschows wirklicher politischer Aufbruch erst mit seiner Bestellung zum Generalsekretär des Zentralkomitees seinen Anfang nahm und er erst ab dann als Reformer auszumachen war.

Als frisch bestellter Generalsekretär sollte Gorbatschows erstes politisches Reformvorhaben einer Antialkoholkampagne gelten, nachdem 1979 bereits 95 Prozent der Zwölf- bis Achtzehnjährigen mit Alkohol vertraut waren, und die durch Alkoholkonsum verursachten Produktionsausfälle, neben den gesundheitlichen und gesellschaftlichen Folgen, eine bedrohliche Form angenommen hatten. Doch das Scheitern seiner Antialkoholkampagne sollte schlussendlich nur die erste seiner innenpolitischen Niederlagen werden.

Ein beständig wiederkehrendes Thema in György Dalos' Gorbatschow-Biografie sind die Spannungen, welcher sich der Biografisierte ausgesetzt sah. Einerseits mit seinem ehrgeizigen Konkurrenten Jelzin, andererseits etwa den sowjetischen Generälen. Schlaglichter wirft Dalos bei seiner Betrachtung des aktiven Politikers Gorbatschow insbesondere auf dessen Umgang mit den großen Krisen seiner Ära, etwa der Katastrophe von Tschernobyl, und den stetigen Zerfall der Union, durch die Forderungen nach mehr Selbstbestimmungsrechten für die Republiken. Aus heutiger Sicht mag vor allem Gorbatschows Umgang mit dem Afghanistankrieg von Interesse sein, dieser nimmt allerdings dessen ungeachtet nicht einmal jenen Raum ein, den Dalos etwa Konflikten wie um die armenische Enklave Berg-Karabach einräumt.

Das Ziel von Dalos' Gorbatschow-Biografie erfährt man im Übrigen erst im Nachwort, wenn er die Aufgabe des Buchs als Versuch beschreibt "Handlungen und Gedanken eines Staatsmanns im Rahmen seiner Zeit zu interpretieren". Nun ist es Dalos durchaus gelungen, die Handlungen Gorbatschows im Rahmen seiner Zeit zu interpretieren, die Gedanken des Staatsmanns hat er allerdings nicht zu fassen bekommen. Generell leidet die Biografie etwas unter dem Eindruck, vor allem aus Sekundärquellen zusammengestellt zu sein, da Dalos auch an keiner Stelle auf eigene Interviews mit Gorbatschow und dessen Zeitgenossen verweist. Entsprechend fehlt auch die damit meist einhergehende Reihe an Danksagungen. Gerade weil Dalos sehr früh betont, wie unterschiedlich, wenn nicht gar paradox die Bewertungen Gorbatschows durch die internationale und russische Öffentlichkeit sind, wäre es ein probates Stilmittel gewesen, diese Divergenzen deutlicher in die Biografie einfließen zu lassen. Stattdessen ist Dalos als Geschichtsschreiber tätig geworden, der einen biografischen Essay vorgelegt hat, der zwar den Aufstieg und Fall des Michail Gorbatschow nachzeichnet, der Persönlichkeit aber weniger Raum gewidmet hat, als man aufgrund mancher Aussagen des Autors erwarten würde.

Eine zentralere Rolle als der Mensch Michail Gorbatschow spielen anscheinend ohnedies die Ereignisse in seinem Leben und die, in deren Zentrum er sich wiederfand. Allerdings bleibt Dalos auch hier oberflächlich. Obwohl noch viele Weggefährten Gorbatschows leben würden, wenn auch manche, wie seine Frau Raissa und Boris Jelzin als Quellen bereits verstummt sind, nutzt Dalos anscheinend die Chance nicht, auf diese zurückzugreifen. Ob es am Umfang der Biografie gelegen ist oder schlicht an einer gern als Objektivität kaschierten Distanziertheit, die dazu dienen soll, sich des Vorwurfs der Vereinnahmung zu erwehren, Dalos' Biografie gehört nicht zu jenen, die sich darum bemühen, hinter die Kulissen zu blicken; die Darstellung bleibt also eher auf Gorbatschows Handlungen beschränkt. "Gorbatschow. Mensch und Macht" ist also weder eine autorisierte Memoirensammlung, noch der Versuch einer Annäherung über das Gorbatschowbild ehemaliger Weggefährten.

Ein überraschendes Detail ist auch, dass Dalos nicht nur gänzlich auf Fußnoten verzichtet hat, sondern auch keine Quellen ausweist. Stattdessen findet sich nach der obligatorischen Zeitleiste zur Ära Gorbatschow eine gerade einmal eineinhalbseitige Literaturauswahl. Gerade dort, wo Dalos scheinbar aus Protokollen zitiert, wäre es nicht uninteressant gewesen, welche Quellen er genutzt hat. So lässt sich tatsächlich nur spekulieren, dass es oftmals wohl Protokolle des Politbüros waren.

Kommt noch Dalos' etwas eigenwilliger und von Abschweifungen in Geschichtsexkurse geprägter Stil hinzu, der dazu geführt hat, dass die frühe Karriere Gorbatschows, welche im Sinne von "Prägungen eines Weltpolitikers" zweifelsfrei interessant gewesen wäre, näher zu beleuchten, einigermaßen überlagert wird. Das Aussagekräftigste zu dieser Zeit ist, dass Gorbatschow damals noch keinesfalls der "Reformer" war, der er später werden sollte.

Fazit:
Wer von "Gorbatschow. Mensch und Macht" ein Destillat bisheriger Biografien erwartet, wird enttäuscht sein; das Buch ist der genuine Versuch von György Dalos, die politische Lebensgeschichte Michail Gorbatschows in eigenen Worten und wohl ergänzend zu seinem letzten großen Werk "Der Vorhang geht auf" abzufassen. Die Ambitionen und Motive des Menschen Gorbatschow bleiben indessen außen vor, Dalos kann sie wohl mangels Interviews mit Gorbatschow nur von außen beurteilen und folglich lediglich spekulieren. Auch unterlässt er es gewissermaßen, den Umweg über Weggefährten Gorbatschows anzutreten und so ein facettenreicheres Bild des Politikers Gorbatschow zu zeichnen, der stattdessen auf seine Taten reduziert bleibt. In die gleiche Kerbe schlägt Dalos noch, indem er Gorbatschows Karriere relativ isoliert darstellt und nicht einmal versucht zu klären, welches Netzwerk ihm wohl zu dieser verholfen hat. Der Eindruck bleibt, dass Dalos seine Biografie zu sehr von außen angegangen ist und daher keine Innenansichten bieten kann. Dass der Historiker dabei gänzlich auf den wissenschaftlichen Apparatismus verzichtet hat, mag zwar den Lesefluss begünstigt haben, doch ohne auch nur irgendwo seine Quellen auszuweisen, und mit einer Literaturliste, die gerade einmal eine Auswahl darstellt ist, Dalos' Biografie doch sehr gewöhnungsbedürftig.

(Mario Pfanzagl; 02/2011)


György Dalos: "Gorbatschow. Mensch und Macht. Eine Biografie"
Deutsche Bearbeitung von Elsbeth Zylla.
C.H. Beck, 2011. 288 Seiten.
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Michail Gorbatschow starb am 30. August 2022 in Moskau.

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