Tobias Bonhoeffer, Peter Gruss (Hrsg.): "Zukunft Gehirn. Neue Erkenntnisse, neue Herausforderungen"

Ein Report der Max-Planck-Gesellschaft


Neue Erkenntnisse aus der Hirnforschung allgemeinverständlich dargestellt

An kaum einem Forschungszweig reifen die Früchte der Erkenntnis zur Zeit schneller heran als in der Hirnforschung. Und doch wachsen auch dort die Bäume nicht in den Himmel, was nicht zuletzt an der Komplexität selbst winzigster Gehirne, wie zum Beispiel der in diesem Buch beschriebenen Wüstenameisen liegt. Daraus lässt sich unschwer folgern, dass die an dieser Publikation beteiligten Autorinnen und Autoren eine schwierige Aufgabe auf sich genommen haben, diese Komplexität einer breiteren Leserschaft verständlich zu machen. Denn für den wissenschaftlichen Laien und nicht für den Experten ist das vorliegende Buch in erster Linie gedacht.

"Zukunft Gehirn" ist als Lesebuch konzipiert, dessen einzelne Kapitel geschlossen für sich stehen und besonders interessante oder relevante Aspekte der Hirnforschung beleuchten. Man braucht das Buch also nicht in einem Stück durchzulesen. Und in der Tat ist es den Autorinnen und Autoren - allesamt weltweit angesehene Spitzenforscher - gelungen, auch für den medizinischen Laien anschauliche Bilder aus einer komplizierten Materie heraus entstehen zu lassen. In einer gelungenen Ausbalancierung greifen wissenschaftliche Fakten und allgemein verständlich formulierte Erläuterungen ineinander.

In zwölf präzise und sorgfältig durchgestalteten Kapiteln referieren die Autorinnen und Autoren über Themen wie die grundlegenden Gehirnfunktionen, die Welt der Sinne, über Lernen und Gedächtnis, über Sprache, Emotionen, Krankheiten des Gehirns oder über die Stammzellenforschung. Ein besonderes Kapitel befasst sich mit der Bedeutung der Hirnforschung für Ethik und Recht. In engem Zusammenhang damit steht das Thema Handlungs- bzw. Willensfreiheit. Gibt es so etwas wie Willensfreiheit überhaupt, kann ein Mensch also für seine Taten verantwortlich gemacht werden? Auch zu dieser brisanten Thematik liefert das Buch ein spezielles Kapitel.

Aber nicht nur das menschliche Gehirn und seine faszinierende Komplexität werden in diesem kurzweiligen Buch dargestellt, auch die Gehirne einiger Tierarten finden innerhalb dieser Publikation Berücksichtigung, denn auch die Gehirne der Tiere verfügen nicht selten über ein phänomenales Leistungsvermögen. Dass beispielsweise Vögel erstaunliche Gedächtnisleistungen vollbringen können, dürfte allgemein bekannt sein, doch welcher Leser hätte es für möglich gehalten, dass ein Buschhäher, der seine Wintervorräte einzeln - Nuss für Nuss - in mehreren Verstecken hortet, dass ein solcher Häher sich bis zu 2000 (zweitausend!) Verstecke gleichzeitig merken kann? Und selbst Insekten werden hier höhere kognitive Leistungen attestiert. Der Beitrag von Rüdiger Wehner "Kleine Gehirne, große Leistungen" befasst sich ausschließlich mit den Hirnfunktionen der Insekten. Dort liest man dann unter Anderem: "... erwiesen sich diese 'niederen' Organismen in ihren Leistungen den genannten 'höheren' Wirbeltieren (Affen, Delfine, Tauben) in vielem ebenbürtig. Sie zeigten sich zum Beispiel imstande, optische Muster zu generalisieren, also nach bestimmten Kriterien wie Symmetrie oder Asymmetrie zu kategorisieren, komplexe Assoziationen zu bilden, kontextabhängig zu entscheiden und Regeln zu erlernen, das heißt, Relationen zwischen Objekten und nicht die Objekte selbst zu bewerten."

Angesichts solcher abenteuerlich erscheinender Aussagen weht sicher so manchen Leser und auch den Rezensenten ein leiser Zweifel an, aber wer weiß, es mag ja durchaus sein, dass die moderne Hirnforschung demnächst noch viel erstaunlichere Dinge ans Tageslicht fördern wird. Welche Erkenntnisse nach dem heutigen Stand der Wissenschaft in nächster Zeit wohl zu erwarten sind, das erfährt der Leser übrigens auch in diesem interessanten und spannenden Wissenschafts-Lesebuch.

(Werner Fletcher; 09/2011)


Tobias Bonhoeffer, Peter Gruss (Hrsg.): "Zukunft Gehirn.
Neue Erkenntnisse, neue Herausforderungen. Ein Report der Max-Planck-Gesellschaft"

C.H. Beck, 2011. 304 Seiten.
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Eine scharfsinnige Studie über die Verbindung von Musik und Wahnsinn auf linguistischer und kulturhistorischer Ebene.
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Michael Kaplan, Ellen Kaplan: "Auf Fehler programmiert. Warum der Mensch irren muss"
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Thomas Grüter: "Klüger als wir? Auf dem Weg zur Hyperintelligenz"
Wer heute etwas gelten will, meint der Philosoph Hans Magnus Enzensberger, muss vor allen Dingen intelligent sein. Kein Wunder also, dass immer mehr Menschen ihre Intelligenz mit allen Mitteln verbessern wollen.
In "Klüger als wir?" erläutert der Arzt und Neurowissenschaftler Thomas Grüter zunächst, was Intelligenz eigentlich ist und wie man sie misst. Er belegt, dass es weder eine einheitliche Definition noch eine sichere Messmethode gibt. Vergleiche des Intelligenzquotienten über Generationen hinweg haben kaum Aussagekraft, Vergleiche zwischen Völkern und Rassen sind grob irreführend. Dann beschreibt er die Entwicklung der menschlichen Intelligenz von ihren Anfängen an und weist nach, dass die Vorstellung von der Überlegenheit des Menschen über die Tiere aufgrund seiner einmaligen Intelligenz ein Mythos ist. Erst die Entwicklung bestimmter gesellschaftlicher Strukturen am Ende der Altsteinzeit verschaffte dem Homo sapiens entscheidende Vorteile. Nicht so sehr seine individuelle Intelligenz, sondern insbesondere seine Fähigkeit zur komplexen Arbeitsteilung hat dem Menschen die Herrschaft über die Erde ermöglicht.
Aus diesem Grund wird die derzeit viel beschworene individuelle Neuro-Verstärkung keinen großen Effekt haben - zumal nach Grüters Einschätzung keine der gegenwärtig diskutierten Methoden überhaupt zum Erfolg führen kann. Eine universale "Intelligenzpille" gibt es nicht, und schon gar keine ohne unerwünschte Nebenwirkungen. Auch über eine direkte Schnittstelle zwischen Gehirn und Computer wird sich die Intelligenz nicht erhöhen lassen. Zwar belegen die eindrucksvollen Erfolge der direkten Reizung des Hörnervs bei Taubheit, dass man Wahrnehmungen über Computer erzeugen und an das Gehirn weitergeben kann, aber eine allgemeine kognitive Leistungssteigerung ist auf diesem Wege nicht möglich. Und genetische Manipulationen zur Steigerung der Gehirnleistung bergen mehr Gefahren als Chancen. Der Autor geht schließlich noch der Frage nach, ob das von manchen Forschern vorgeschlagene Gedächtnishochladen, die Übertragung des menschlichen Geistes in einen Supercomputer, möglich ist und welche Folgen es haben könnte. Und er wirft einen skeptischen Blick auf die Forschungen zur künstlichen (Hyper-)Intelligenz.
Grüter schreibt lebendig und veranschaulicht die schwierige Materie immer wieder mit kurzen Erzählungen. Seine kritische Bestandsaufnahme liefert eine wichtige Orientierung in der zum Teil unreflektiert geführten Diskussion um Neuro-Verstärkung, kognitive Leistungssteigerung und Hyperintelligenz. (Spektrum Akademischer Verlag)
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