Umberto Eco: "Bekenntnisse eines jungen Schriftstellers"


"Ein Text ist eine Maschine zur Erzeugung seines Modell-Lesers." (Umberto Eco)

Es dauerte nicht lange, da hat sich der Rezensent gefragt, ob er als Leser der Spielball des Autors sei. Denn kann das alles ernst gemeint sein, was dieser große Autor da zum Besten gibt? Er kommt elitär daher, unterscheidet zwischen Bildungsbürger und einfachem Leser, als ob der Bildungsbürger tatsächlich einen Vorteil davon hätte, einen Text zu decodieren. Der Autor schreibt klar und deutlich von Doppelcodierungen und dass es ihm eine diebische Freude mache, diese in seine Romane einfließen zu lassen. Ein Text ist ein Text ist ein Text, und der Modell-Leser sitzt am Ende da und schaut dumm in die Luft. Denn die Frage ist: Werden wir Leser hereingelegt? Sind unsere Textinterpretationen wie der Treibsand, aus dessen Konsistenz der Autor irgendwelche Burgen und Schlösser baut, auf dass er sich daran ergötze? Eco meint, er brauche den Leser, weil er behauptet, nicht nur für sich selbst zu schreiben. Schreiben sei immer ein Dialog, und nur schlechte Autoren stellten dies in Frage.

Vielleicht spielt Eco ein Spiel, vielleicht meint er es aber auch ernst. Er palavert über die Hintergründigkeit seiner Romane, die langwierigen Recherchen, elendslange Listen, die irgendeine Hilfestellung sein mögen oder auch nicht. Der Autor tritt nicht hinter das Werk zurück, sondern stellt sich in den Vordergrund. Alles ist bestens durchdacht, modelliert. Nichts ist dem Zufall überlassen. Unsinn, oder? Ist das aus den Buchstaben, Wörtern, Sätzen, Absätzen, Kapiteln, ja aus dem ganzen „Bekenntnis“ ablesbar, oder sollen wir Leser gefälligst immer zurück an den Start, wenn wir die eine oder andere Codierung nicht in ihrer Doppelhelix zu verstehen in der Lage waren? Welcher Voraussetzungen bedarf es für den Leser, insofern er sich daran machen will, ein mit Buchstaben vollgekleistertes, sehr fein gestricktes Papierbündel nicht wie ein Produkt vom dritten Sternennebel hinter dem Mars zu behandeln? Der Leser könnte gewillt sein, aus einem Textkonvolut heraus einen Lernprozess einzuleiten, auf dass er weiser werde. Hat es Umberto Eco in diesem Fall darauf angelegt?

Laut dem jungen Schriftsteller ist eine fiktive Person realer als eine vorgestellte reale Person. Anna Karenina kann den Leser zu Tränen rühren, die Vorstellung des Selbstmords eines Menschen aus dem Umfeld höchstens verunsichern. Eine Erfindung eines Autors steckt zwischen zwei Buchdeckeln fest und kann daraus auch nicht entwischen. Die Figur bleibt durch den Text, der sie begrenzt, fassbar. Über den Nachbarn, der gerne seine Goldfische vergiftet, wissen wir viel weniger, weil er nicht dazu gezwungen ist, sich von einem Autor sein Leben, seine Leidenschaften, seine Neurosen, kurzum seine Scheinheiligkeit diktieren zu lassen. Der Leser leidet mit Anna Karenina mit, weil er weiß, dass es sich um eine fiktive Figur handelt, der er nie persönlich begegnen wird. Er stellt sie sich vor: Wie sie leidet, wie sie den Entschluss fasst, ihrem Leben ein Ende zu setzen und dies dann tatsächlich umsetzt. Der Leser benutzt die Werkzeuge, die der Autor vorgibt. Er nimmt ein Schäufelchen Sand, formt mit seinen Händen oder - langweiliger - einem Modell irgendeine Struktur und glaubt manchmal sogar, dass seine missgebildete Sandburg der annähernd perfekten Sandburg des Autors gleicht.

Beabsichtigt Umberto Eco, dem Leser eine Nase zu drehen, und ist die Vorstellung von Umberto Eco als merkwürdigem Zeitgenossen, der mit Fachbegriffen um sichwirft, akademische Zirkel kreisen lässt und sich nicht darum kümmert, ob sich der Leser bei der Lektüre fadisiert oder viel lieber seine eigene Sandburg bauen will, an den Haaren herbeigezogen? Diese "Bekenntnisse" sind möglicherweise ein Rätsel, weil sie durch unzählige Doppelcodierungen in sich selbst verstrickt das Sein und das Nichts in die Waagschale legen.

Der Rezensent hätte den Text gerne verstanden, aber es ist kein Widerspruch in sich, wenn er nicht dazu aufgerufen sein will, Klarheit in die Sandburgenmonsterlandschaft hineinzuinterpretieren. Jeder Leser muss selbst entscheiden, ob er einen Text als Belehrung, Doppelcodierung oder Anleitung zur Weisheit interpretiert. Umberto Eco ist nicht so, wie er es uns Lesern vorspiegeln will - oder doch? Hat er sich selbst als fiktive Figur neu erschaffen, die dem Leser Märchen erzählt? Wer jetzt nach dieser Spekulation noch Lust darauf hat, einen Weg mit einem Autor zu gehen, der nie dorthin führt, wo die Sandburgen nie in sich zusammenstürzen, der mache sich auf die Reise. Vielleicht wird er sich als Modell-Leser selbst auf die Schulter klopfen und endlich die vergifteten Goldfische des Nachbarn wichtiger nehmen als den geplanten Selbstmord einer fiktiven Figur, die nie in der Lage sein wird, Goldfische zu vergiften, weil dies nur der Modell-Leser für sie tun kann.

(Jürgen Heimlich)


Umberto Eco: "Bekenntnisse eines jungen Schriftstellers"
(Originaltitel "Confessions of a Young Novelist")
Übersetzt von Burkhart Kroeber.
dtv, 2015. 208 Seiten.
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Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Der Friedhof in Prag"

Der Meister des historischen Romans erzählt die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts, in der wir jedoch unser eigenes wiedererkennen können.
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