E. M. Cioran: "Über Deutschland"

Aufsätze aus den Jahren 1931-1937


Dieses gewisse Unbehagen

Das peinlichste Dilemma, das uns europäische Intellektuelle zäh verfolgt, sind mehr oder weniger überhastete respektive leichtfertige Äußerungen über den Nationalsozialismus in dessen damaligen Anfangsjahren. Da meint man heute manchmal, diese "Sünden" so nebenbei beim Intellektuellenfrühstück erledigen zu können, indem man eben angeblich politisch korrekt empört tut und sich angewidert abwendet. Vielleicht ist es auch ein gewisses Entsetzen über die Naivität, mit der mancher später liebgewonnene Autor den Dämon Hitler verkannt haben mag. Was für ein Aufschrei jagt jedesmal den nächsten durchs Feuilleton, wenn wieder einmal ruchbar wurde, dass ein liebgewonnener "Kollege" in seinen jungen Jahren gewissen Verführungen oder auch Zwängen erlegen war. Dann wird der Vorwurf hochstilisiert, dass nicht jeder von Geburt an so schlau war wie der jeweils sich blütenrein gerierende Kritiker. Ach, was hat man verbal eingeprügelt auf Gottfried Benn oder Ernst Jünger oder in jüngeren Zeiten gar auf Günter Grass - wie schön und beruhigend ist es doch zu wissen, dass wir umgeben sind von Unfehlbaren. Wobei nicht verschwiegen sei, dass selbstverständlich den Intellektuellen mit einem untadeligen aufrechten Gang unser aller Respekt gehören sollte. Wie dem auch sei, dieses gewisse Unbehagen wird nun beispielsweise wieder einmal wachgerufen anlässlich der Publikation der ins Deutsche übersetzten "Aufsätze aus den Jahren 1931-1937" (Untertitel) des brillanten Essayisten Cioran.

Abgesehen von etlichen kulturkritischen Aufsätzen, die sich u.A. mit Kokoschka, Jaspers oder Hegel beschäftigen, rücken freilich die Texte mit Deutschland-Bezug für Leser in Deutschland respektive Österreich in den Focus der Aufmerksamkeit. Im Jahre 1933 schwärmt Cioran in seiner "Apologie Deutschlands" wahrhaft in den höchsten Tönen: "Auf dieser Erde gibt es keine Kultur, die sich durch so viele Errungenschaften, durch eine so reiche und komplexe Vielfalt, durch eine so überquellende und unendlich nuancenreiche Verschiedenartigkeit ausgezeichnet hätte." Nach Ciorans Auffassung hat Deutschland die meisten Genies hervorgebracht, wobei ihm als die kulturellen Gipfelleistungen erscheinen: Wagner und Hegel. Das Charakteristikum der deutschen Kultur sei "monumentale Innerlichkeit". Ach, ließe man sich in Deutschland doch allzu gerne in dieser oder ähnlicher Manier loben und nähme auch ein wenig Überschwang für Wagner in Kauf, wenn daraus nicht die nächsten unheilvollen Schlüsse gezogen worden wären.

In seinem Text "Deutscher Brief" (auch 1933) lesen wir quasi das Konzentrat der Cioran'schen Kurzschlüsse: "Es nötigt Bewunderung ab, wenn man sieht, wie ein Regime, um sein Dasein zu rechtfertigen, das Recht verändert, die Religion umwandelt, der Kunst eine andere Richtung gibt, eine andere Perspektive der Geschichte konstruiert, drei Viertel der anerkannten Werte brutal beseitigt, rasend verneint und dabei vor Enthusiasmus pulst. Wenn man mir einwenden möchte, die politische Ausrichtung von heute sei unzulässig, sie beruhe auf falschen Werten, der ganze Rassismus sei eine wissenschaftliche Illusion und die germanische Ausschließlichkeit kollektiver Größenwahnsinn, will ich entgegnen: Was bedeutet das schon, wenn Deutschland sich doch unter einem derartigen Regime wohl, frisch und vital fühlt." Handelt es sich bei solchen Zeilen um einen handfesten intellektuellen Skandal oder um verzeihliche Dümmlichkeiten eines 22-jährigen Heißsporns?! Hat Cioran nicht mit seinem unversöhnlichen Nihilismus für den Rest seines Lebens einen hohen Preis gezahlt, indem sein Bewusstsein in intellektueller Verzweiflung versumpfte?!

Freilich vermeinte Cioran damals noch, es müsse und werde die "Verneinung zu Gewissheiten, zur Verzückung und zum Erhabenen" führen (vgl. "Blicke auf Deutschland", 1933). Er ist begeistert vom "irrsinnigen Enthusiasmus" und der "Leidenschaft einer fruchtbaren und schöpferischen Barbarei", vom geschichtlichen "Messianismus" der Deutschen und ihrem "absoluten Dynamismus". Freilich kann es bestürzen, wenn Cioran sinniert, "ob die Menschen die Freiheit verdienen und ob sie sie brauchen!" (vgl. "Berliner Aspekte", 1933). Und es mag einem gewissen naiven Zynismus entspringen, wenn Cioran den Deutschen, die das aufkommende Hitler-Regime nicht mögen, rät, "parallel zu dieser Staatsform zu leben", sich etwa mit ägyptischer Kunst zu beschäftigen oder russische Romane zu lesen. Was uns heute noch erschrecken müsste, ist Ciorans These, dass der "Hitlerismus" in Deutschland "organisch" herangewachsen ist und sich "in die Kontinuität und den Sinn der deutschen Geschichte integriert." Grundsätzlich gefällt Cioran der "Kult des Irrationalen" der Hitler-Anhänger. (vgl. "Deutschland und Frankreich oder Die Illusion des Friedens", 1933). Cioran versteigt sich gar zu der Analyse, der Deutsche brauche unbedingt einen Führer, weil "der deutschen Seele eine innere Achse fehlt" und zum Ausgleich ein "Absolutes außerhalb" nötig sei. Dem deutschen Wesen sei die "Unterordnung" angemessen, denn "Demokratie hat den Deutschen innerlich niemals gepasst." Bleibt doch festzustellen, dass dieses Psychogramm Ciorans der Deutschen aus Genialität und Heldentum, Irrationalismus und Unterwürfigkeit einen gewissen faden Nachgeschmack hinterlässt. Sehr beruhigend kann seine Prognose auch nicht stimmen, dass die Einheit Europas sich erst einstellen wird, wenn sich entschieden hat, ob sich das romanische oder das germanische Wesen durchgesetzt hat.

Im Jahr 1934 schildert Cioran seine "Eindrücke aus München", wobei er bemerkt: "Es gibt keinen Politiker in der heutigen Welt, der mir größere Sympathie einflößte als Hitler." Er bescheinigt ihm einen "prophetischen Geist" und das "Verdienst, einer Nation den kritischen Verstand geraubt zu haben." Solcherart Bekundungen sind freilich ein Tiefpunkt intellektuellen Gebrabbels. Geradezu widerlich wird Cioran in seinem Brief vom 15. Juli 1934, in dem er den Wert des Menschen an sich in Frage stellt: "Mensch zu sein, bloß Mensch zu sein bedeutet nichts." Da möchte man doch als Rezensent verzweifeln. Wie soll man denn dermaßene Entgleisungen menschlichen Geistes noch kommentieren oder gar zur Lektüre weiterempfehlen?!

In seiner "Nachbemerkung" erläutert der Übersetzer (aus dem Rumänischen) Ferdinand Leopold, dass Ciorans Rechtextremismus in jungen Jahren womöglich zu erklären sei aus seiner Schlaflosigkeit und Verzweiflung und seinem jugendlichen Tatendrang. Das wäre, mit Verlaub, eine ziemlich debile Rechtfertigung derartiger Entgleisungen. Cioran gelangte nach Leopolds Einschätzung zu einer "geradezu exzentrischen philosophischen Haltung, der es nicht mehr schwerfällt, sich mit radikalen politischen Ansichten zu identifizieren." Unerklärlich bleibt, dass Cioran, obschon er ein "Beobachter und Denker des Negativen" war, zwar nicht an Gott glauben kann, aber vor Führergestalten und Helden quasi auf die Knie sinkt. Und so bleibt er uns aus diesen Jahren in Erinnerung als ein "Denker, der die Diktatur predigte, ihr aber immer aus dem Weg ging" und einer, der "seinen Gedanken stets die paradoxeste, verstörendste und schrillste Form" verlieh. Eine in der Tat verstörende Lektüre, die uns zumindest aber wieder einmal zweierlei bestätigt: Erstens dass man im Nachhinein normalerweise klüger ist und zweitens dass sich große Geister extrem zu wenden verstehen.

(KS; 04/2011)


E. M. Cioran: "Über Deutschland. Aufsätze aus den Jahren 1931-1937"
Aus dem Rumänischen und mit einem Nachwort von Ferdinand Leopold.
Suhrkamp, 2011. 332 Seiten.
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