Martin Suter: "Der Koch"


Verfilzte soziale und wirtschaftliche Netze in einem spannend konzipierten Roman

Maravan, ein Flüchtling aus dem vom Bürgerkrieg gebeutelten Sri Lanka, arbeitet als Hilfskraft in einem renommierten Zürcher Restaurant, in dem sich die Schönen, Reichen und Mächtigen begegnen. Mit seiner Tätigkeit ist Maravan völlig unterfordert, denn er hat in seiner Heimat eine ausgezeichnete Ausbildung als ayurvedischer Koch absolviert und von seiner Tante einige Geheimnisse der heimischen Küche abgeschaut.

Als sich eines Tages die bildschöne Serviererin Andrea bei ihm einlädt, um ihm eine Möglichkeit zu geben, seine Künste zu beweisen, gibt sich Maravan alle Mühe, und zu ihrem eigenen Erstaunen landet Andrea, die eigentlich Frauen liebt, mit ihm im Bett. Sie drängt Maravan, ihr zu verraten, was er "Verbotenes" ins Essen getan hat, und er gibt schließlich zu, dass das Essen selbst die erotische Anregung ergeben hat; es handelt sich um ein aphrodisierendes Menü, das er von seiner Tante zu kochen gelernt hat.

Infolge des miserablen Teamgeistes im Restaurant wird Maravan gekündigt und fragt sich nun, wie er seine ins Sri Lanka gebliebene Schwester, seine Tante und den Rest der Familie weiterhin finanziell unterstützen soll. Da hat Andrea die zündende Geschäftsidee. Sie tut sich mit einer Paartherapeutin zusammen. Maravan soll das Liebesmenü für Ehepaare unter deren Kunden kochen, Andrea koordiniert die Termine und serviert. "Love Food" hat Erfolg, und bald interessieren sich auch Menschen jenseits der Klientel der Therapeutin dafür: Reiche, Maravan und Andrea zum Teil von ihrem früheren Arbeitsplatz her bekannt, die das Menü mit ihren Seitensprüngen und leichten Mädchen genießen wollen.

Maravan weigert sich zunächst, seine Kochkunst für solch unmoralische Machenschaften zur Verfügung zu stellen. Doch die prekäre Lage seiner Familie bringt ihn dazu, einzulenken - er braucht Geld. Und so verflechten sich Maravans und Andreas Leben immer enger mit dem einer Clique von schwerreichen, gewissenlosen Lobbyisten, bis es schwierig wird, die professionelle Distanz aufrechtzuerhalten.

Anfangs lernt der Leser den hektischen Arbeitsalltag im Zürcher Sternerestaurant kennen, dessen Personal, die Stammgäste und den Inhaber. Im Gegensatz dazu stehen Schilderungen von Maravans ruhigem, zurückgezogenem Privatleben unter anderen Asylanten.

Anfangs plätschert die Handlung ein wenig vor sich hin, und auch der Beginn des Unternehmens "Love Food" verläuft wenig spektakulär. Doch dann werden die anfangs ausgelegten Fäden verknotet, und je näher sich die so unterschiedlichen Menschen kommen - Maravan, Andrea, die Lobbyisten und eines der Mädchen aus deren Dunstkreis -, desto mehr verdichtet sich auch die Handlung, wird psychologisch komplexer, zeigt die ganze Absurdität moderner politischer und ökonomischer Beziehungsgefüge auf und kulminiert schließlich in einem mörderischen Finale.

Pointiert, mit einigem Sarkasmus gewürzt, präsentiert Martin Suter einen scheinbar heilen Mikrokosmos in der heimeligen Schweiz, der sich nach und nach als Hydra erweist, tödlich, gewissenlos, leichtfertig, mit menschlichen Gesichtern, die sich zunehmend verzerren. Die Charaktere wirken durchaus authentisch, doch ihnen hätten ein paar etwas ausgeprägtere Konturen wohl gut getan; sie kommen ein wenig "weichgespült" daher. Doch mag diese relative Austauschbarkeit beabsichtigt sein: Wie viele Maravans, wie viele Waffenlobbyisten mag es in der Schweiz, in der ganzen Welt geben?

Das Essen, insbesondere Maravans Love Menu, und der Genuss spielen in "Der Koch" eine zentrale Rolle. Da verwundert es nicht, wenn der Leser gern wissen würde, wie die einzelnen Gänge denn nun zubereitet werden. Und er wird nicht enttäuscht: Am Ende des Buchs findet man die Rezepte. Will man das komplette Menü nachkochen, so sollte man gut ausgerüstet sein, denn es sind unter anderem ein Rotationsverdampfer und ein Siphon (für Schäume) erforderlich.

Ein spannender Roman mit Tiefgang, der es vermag, die Zerrseite der modernen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gefüge widerzuspiegeln.

(Regina Károlyi; 01/2010)


Martin Suter: "Der Koch"
Diogenes, 2010. 312 Seiten.
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Hörbuchausgabe:
Diogenes, 2010. Gelesen von Heikko Deutschmann.
6 CDs, Spieldauer ca. 7 Stunden und 17 Minuten.
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