Arno Schmidt: "Verschobene Kontinente"

(Hörbuchrezension)


Aus "Ein Leben im Voraus": "[Füllte] noch geschwind zwei Slibowitze in sein dürres Skeptikergesicht."

Die erste Geschichte, "Ein Leben im Voraus", macht einen guten Anfang.
"Natürlich nahmen wir nur eine Ecke der Terrasse ein." Einige Menschen sitzen in der Runde und warten auf eine weitere abendliche Anekdote von Vermessungsrat a. D. Stürenburg; er "musterte noch einmal den Rundhorizont, wahrscheinlich, um zu überprüfen, ob auch noch alle trigonometrischen Punkte an ihren vorgeschriebenen Plätzen wären und seufzte das einleitende, behagliche 'Tja ...'." So sitzt auch der Hörer dieser 275 eingelesenen Minuten vom "bewährten Trio der Arno Schmidt Stiftung" - Joachim Kersten, Bernd Rauschenbach und Jan Philipp Reemtsma - vielleicht vor geöffnetem Fenster, auf dem Balkon oder sonst irgendwo und verstöpselt sich die Ohren, um einigen Geschichten Arno Schmidts zu lauschen und in dem "männlichen" Ton dieser Prosaskizzen zu versinken. Was das sei, ein männlicher Ton, möchte die Rezensentin gern noch ein wenig näher etwas später ausführen.
Da sind so kleine, nebenbei gemachte Formulierungen zu finden.

Einem illustren Kreis erzählt Vermessungsrat a. D. Stürenburg seine Geschichtchen. Da gibt es die Witwe Frau Dr. Warig, deren Nichte Emmeline, die immer wieder gern ins Haus oder hierhin und dorthin geschickt wird, weil man ja nicht weiß, was der Vermessungsrat Stürenburg nun wieder zu erzählen haben mag, Hauptmann von Dieskau, den Apotheker Dettmer, "das Faktotum" Hagemann (der Handlanger Stürenburgs, der auch einmal in einer der Geschichten zum Erzähler wird) und den ominösen Ich-Erzähler, der ebenso mit einer gewitzten Beobachtungsgabe gesegnet zu sein scheint.
In publikations- bzw. schaffenschronologischer Reihenfolge sind die sogenannten Stürenburg-Geschichten auf der ersten CD aufgelistet, allesamt Brotarbeiten für Zeitungen, entstanden zwischen Mai 1955 bis 1956.
Aber nicht nur die Stürenburg-Geschichten sind des Hörens wert - der Ton der mündlich erzählten Anekdote liegt in den Texten von Arno Schmidt, die hier versammelt sind und macht sie fünf- bis manchmal auch zwanzigminütigen Kurzgeschichten zu wahrlich schmackhaften Hörerlebnissen. Das zwischenmenschlich Bittere, Wahre liegt in seinen Worten, die Drehungen und Wendungen derer, die über die Anderen etwas zu erzählen und über sie zu urteilen wissen, das ist auch die Ironie Schmidts.

Da gibt es also noch "Die lange Grete", die ein äußerst herzliches Verhältnis zu ihren Schafen hat, dafür aber im menschlichen Raum nicht mehr walten mag. Oder "Nebenmond und rosa Augen", welche, wie so viele andere auf diesem Hörbuch zu findende Geschichten, mit (natur-)wissenschaftlichen Genauigkeiten und Beobachtungen aufwartet, sie mit der Vergangenheit der vorhergehenden Generation und einer allzu menschlichen Gegenwart verbindet.

Dass da drei Sprecher am Werk sind, die sich mit Arno Schmidt gut auskennen, merkt man den gelesenen Texten an. Alle Drei haben eine gewisse Liebe und die nötige Chuzpe in der Stimme. Jan Phillip Reemtsma gar überzeugt mit einem gefühlten Witz, der so grundlegend in den Texten von Arno Schmidt liegt. Wunderbar, dass es drei verschiedene Stimmen sind, die lesen, weil sich die einzelnen Geschichten so und auch der Duktus Arno Schmidts in ihrer Mannigfaltigkeit zeigen können.

Wirklich schön an dem beiliegenden Begleitbuch zu den vier CDs sind die Äußerungen der drei Leser dazu, wie sie mit Arno Schmidt erstmals in Berührung gekommen sind und was er für sie nun wohl ausmache. Mit Bildern vom Autor selbst versehen, wird dieses Begleitbuch zu einem interessanten und offenen Zugang zu Schmidt, von dem oft doch gesagt wurde, (besonders im Hinblick auf das spätere Hauptwerk "Zettels Traum"), wie unzugänglich er sei. Die Miniaturen sind es nicht unbedingt. Sie haben einen anderen Ton, einen, der aus einer anderen Zeit kommt, was sie aber für ein heutiges Ohr zu wirklich lebendigen Anekdoten werden lässt. Bernd Rauschenbach schreibt auch noch, dass er "erst viele Jahre später (...) begreifen [lernte], wie sich die Meisterschaft eines großen Künstlers auch in auf den ersten Blick unscheinbaren Miniaturen äußern kann."

Man möchte sich noch mehr solcher Zusammenarbeiten im Sinn Arno Schmidts wünschen. Bisweilen mag man auf die bisher existenten Hörbücher wie "Zettels Traum" und "Kühe in Halbtrauer" zurückgreifen!

(Christin Zenker; 08/2010)


Arno Schmidt: "Verschobene Kontinente" 
Ungekürzte Lesung.
Sprecher: Jan Philipp Reemtsma, Joachim Kersten, Bernd Rauschenbach.
Hoffmann und Campe, 2010. 4 CDs, Spieldauer 275 Minuten.
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Arno Schmidt, am 18. Jänner 1914 in Hamburg geboren, war nach dem Abitur und einer kaufmännischen Lehre 1937-1940 grafischer Lagerbuchhalter in Greiffenberg (Schlesien) und von 1940 bis 1945 Soldat, überwiegend in Norwegen. Ab 1947 lebte er als freier Schriftsteller u.A. im Saarland und in Darmstadt, ab 1958 in Bargfeld, Kreis Celle. Arno Schmidt starb am 3. Juni 1979 in Celle.

Weitere Bücher des Autors:

"Über die Unsterblichkeit. Erzählungen und Essays"

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Jan Philipp Reemtsma.
"Würden die Menschen nicht besser werden, wenn sie nicht an die Unsterblichkeit glaubten?!" fragt Arno Schmidt in seinem Roman "Das steinerne Herz". Er zielt mit dieser Frage auf ein Thema, das ihn ein Leben lang beschäftigte: Als unsterblich, also "als immerfort mitlebend", galten ihm allein die Schriftsteller, deren Literatur dem liebend lesenden Auge mühelos Brücken in abgesunkene Zeiten schlägt.
Doch Schmidt wäre nicht Schmidt, hätte er das Thema nicht auch ironisch gewendet. Die Last unsterblichen Ruhmes malt er in "Tina oder über die Unsterblichkeit" lustvoll aus: Die Berühmten müssen sich nach ihrem Tod in einem höllischen Elysium für eine Ewigkeit langweilen, bis man sie endlich vergessen hat. In "Caliban über Setebos" sucht ein profaner Orpheus in einem unterweltlichen Bauerndorf voller Hades-Schatten nach der verlorenen Geliebten.
Jan Philipp Reemtsma hat für diesen Band aus dem umfangreichen Werk Arno Schmidts Texte ausgewählt, die erzählend oder essayistisch über den Nachruhm sinnieren und der Frage nach der Geschichtlichkeit allen Seins überraschende Pointen abgewinnen. (Suhrkamp)
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"Geschichten aus Deutschland" zur Rezension ...

"Zettels Traum"
"Zettels Traum" umfasst 1334 mehrspaltig beschriebene Seiten, die in Form des Original-Typoskripts mit Randglossen und Handskizzen des Autors wiedergegeben sind. Der Titel verweist ironisch auf die 120.000 Notizzettel, auf denen Schmidt seine Einfälle zum Buch notiert hatte, und auf den Weber namens Zettel in Shakespeares "Ein Sommernachtstraum". Der Roman ist ein Solitär in der Literatur des 20. Jahrhunderts, der seit der ersten Veröffentlichung 1970 großes Aufsehen erregt, wobei der Reichtum an Anspielungen bis heute nicht gänzlich ergründet werden konnte. (S. Fischer)
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Textauswahl als Hörbuch (Hoffmann und Campe)
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Noch ein Buchtipp:

Jan Philipp Reemtsma: "Über Arno Schmidt. Vermessungen eines poetischen Terrains"

"Man kann Bücher leider nur einmal zum ersten Mal lesen. Die großen Autoren entschädigen für diese traurige Einmaligkeit dadurch, dass ihre Bücher bei der zweiten und dritten Lektüre sich erst wirklich entfalten."
In zwölf Annäherungen aus höchst unterschiedlichen Richtungen erkundet Jan Philipp Reemtsma das Schmidtsche poetische Terrain. Dabei wird deutlich: Arno Schmidts Bücher sind voll Witz und Komik.
Reemtsmas Lektüreprotokolle bestätigen die These, wonach die Bedeutung eines Werkes daran gemessen werden kann, wie viele Verständnismöglichkeiten es eröffnet. Zugleich führen diese Essays vor: Diese Bedeutungsvielfalt, das Aufspüren überraschender Perspektiven und verborgener Zusammenhänge setzt einen Leser voraus, der sich genauestens an den Wortlaut der Texte hält und im selben Moment aufgrund seines Wissens eine Unzahl von Assoziationen freisetzt. Reemtsmas Freude während der Lektüre teilt sich in seinem Schreiben über Arno Schmidt mit: sie steckt zu eigenen Leseentdeckungen an.
Politik, Sexualität, poetische Sendung - so vielfältig die Möglichkeiten sind, sich dem Werk Arno Schmidts zu nähern, so eindeutig ist die Einladung, diesen Ausnahme-Autor neu oder wieder zu lesen. (Suhrkamp)
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