Eduardo Belgrano Rawson: "Die Predigt von La Victoria"


Argentinien und seine wechselnden Regierungen

Romane von südamerikanischen Autoren, deren Handlungen sich mit den Folgen von Militärdiktaturen befassen, gibt es inzwischen in großer Zahl. Argentinien gehört zu den Ländern, in denen politische Unruhen über Jahre das Tagesgeschehen beherrschten. Der vorliegende Roman des argentinischen Schriftstellers Eduardo Belgrano Rawson bietet einmal mehr Einblicke in einen Polizeistaat, in dem ohne lange Gerichtsverfahren Menschen verdächtigt, durch Folter zu Geständnissen gezwungen und für lange Jahre inhaftiert wurden.

Was ist geschehen?
In der kleinen Provinzhauptstadt San Louis verliebt sich der junge Nelson Madaf 1989 in die fünfzehnjährige Schülerin Claudia Diaz. Beide sind Schüler eines örtlichen Gymnasiums. Claudia ist ein hübsches Mädchen, aus deren Andeutungen Nelson schließt, dass sie sich zu Hause nicht sehr wohl fühlt. Fürsorglich legt er ihr bei der ersten Begegnung seine neue Jacke über und lässt sie damit nach Hause ziehen. Man verabredet sich für den nächsten Abend, doch sie erscheint nicht. Stattdessen gerät Nelson ganz schnell in Verdacht, an ihrem Verschwinden beteiligt zu sein. Man wirft ihm Mord vor. Aufgrund der Folterungen, die in allen Einzelheiten beschrieben werden, gesteht er ein Verbrechen, das er gar nicht begangen hat. Nach und nach wird seine ganze Familie verfolgt. Fast jeder Freund, Verwandte oder jede Freundin von Claudia gerät in den Verdacht der Mittäterschaft. Auch ihre Freundin Laura und ihre Mutter werden inhaftiert und müssen die Qualen der Folter und falschen Anschuldigungen über sich ergehen lassen. Dass am Ende Claudia in einem heruntergekommenen Zustand mit mehreren Kindern und einem brutalen Ehemann in der Stadt Caucete wieder auftaucht, ändert nichts am Unrechtssystem. Claudia war schlicht und einfach abgehauen und hatte neun lange Jahre ihr eigenes Leben geführt.
Nelson wird weiter verfolgt, weil er falsche Geständnisse unterschrieben hat. Die Rechtsorgane in einem Unrechtsstaat finden immer neue Gründe, um mit den Bürgern ihr Unwesen zu treiben.

Man bekommt einen Eindruck von der Wirkung willkürlicher und grausamer Polizeimaßnahmen, mit denen unliebsame Gegner des Regimes oder politisch verdächtige Personen eingeschüchtert werden.
Im zweiten Teil des Romans geht es um den Mord an einer Mutter und den Verbleib ihres Sohnes nach ihrem Tod. Beide Fälle, so steht es geschrieben, basieren auf historischen Vorgängen.

Die Handlung bietet ausreichende Beispiele, wie Terror, Folter, Haft und Rechtlosigkeit auf die Betroffenen wirken.
Schnell ist das Maß des Erträglichen überschritten, und ein Mensch verliert alle Selbstkontrolle, bis er zum willenlosen Objekt sadistischer Schergen wird und alle gewünschten Geständnisse unterschreibt.
Die Geschichte ist teilweise verworren, denn sehr viele Gestalten bevölkern den Roman. In einer Art apokalyptischem Szenario bewegt man sich zwischen Fiktion und Wirklichkeit.

In poetischen Bildern beschreibt der Autor sein Land, das in langen Jahren der Konfusion von Terror, Gewalt und Rechtlosigkeit beherrscht wurde. Wechselnde Zeitebenen und kleine Szenen aus dem Alltag geben dem Roman die Dynamik, mit der ein düsteres und bedrückendes Gesellschaftsbild und im Kontrast dazu ein buntes und erhebendes Landschaftspanorama entsteht. Schicht für Schicht enthüllt Eduardo Belgrano Rawson in seiner Geschichte die Ereignisse. Ein geschundenes Volk und seine Bürger werden in schillernden Farben dargestellt. Gerade die wechselnden Perspektiven seiner Auffassung belegen, wie es sich lebt, wenn Recht und Gesetz in Willkür ausarten. Unter der geschlossenen Decke des Unrechtsstaates schimmern nur ansatzweise einzelne Charaktere hervor. Ein jeder sucht seinen eigenen Weg, um sich zu einem unbehelligten Leben durchzutasten.

Eduardo Belgrano Rawson ist ein herausragender Autor und Zeuge seiner Zeit. In seiner feinen und differenzierten Diktion zeigt er Land und Leute, und man bekommt einen lebhaften Eindruck von den Zuständen in einem Land, das uns geografisch und politisch auch heute noch sehr fern steht.

(Claudine Borries; 10/2010)


Eduardo Belgrano Rawson: "Die Predigt von La Victoria"
Aus dem Spanischen von Enno Petermann.
C.H. Beck, 2010. 160 Seiten.
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Der Schriftsteller und Journalist Eduardo Belgrano Rawson wurde 1943 in einem kleinen Dorf in Argentinien geboren. Neben anderen Literaturpreisen erhielt er 1979 den Preis des "Club de los XIII" für "Schiffbruch der Sterne".

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