Stanislas Dehaene: "Lesen"
Die größte Erfindung der Menschheit und was dabei in unseren Köpfen passiert
Das Wunder des Lesens
        
        "Wir sind auf absurde Weise an das Wunder geschriebener Zeichen
          gewöhnt, denen die Fähigkeit innewohnt, unsterbliche Vorstellungen zu
          beherbergen, Gedankenverwicklungen, neue Welten mit lebendigen
          Menschen, welche sprechen, weinen, lachen. Und wenn wir eines Tages,
          jeder von uns, aufwachten und fänden uns allesamt völlig des Lesens
          unkundig?" (Vladimir
          Nabokov)
        
        "In diesem Moment vollbringt Ihr Gehirn, ohne dass es Ihnen bewusst
          würde, eine bemerkenswerte Leistung - es liest. Die Augen
          eilen mit kleinen präzisen Bewegungen über die Zeilen. Vier oder fünf
          Mal pro Sekunde verharrt Ihr Blick dabei auf einem Wort, gerade lange
          genug, dass Sie es erkennen können. Nur der Klang und die
          Wortbedeutung erreichen dabei unser Bewusstsein. Aber wie können diese
          wenigen schwarzen Zeichen (...), die auf die Retina projiziert werden,
          ein ganzes Universum heraufbeschwören ...".
        Mit diesen Sätzen beginnt Stanislas Dehaene sein Sachbuch, das sich ganz
        dieser großen Erfindung der Menschheit widmet. Der französische
        Kognitionswissenschafter vermittelt darin auf beeindruckende Art und
        Weise die jüngsten Fortschritte in der Wissenschaft vom Lesen. Er
        liefert einige Orientierungspunkte, die deutlich machen, wie komplex die
        Abläufe sind, die unser Gehirn dafür in Gang setzt und wie faszinierend
        das Ineinandergreifen der einzelnen daran beteiligten Komponenten ist.
        
        Evolutionär hat uns nichts darauf vorbereitet, sprachliche Informationen
        auch visuell aufzunehmen. Nur wie gelingt es unserem Primatengehirn, das
        unseren Jäger- und Sammlervorfahren vor zehntausend Jahren ermöglichte,
        am Leben zu bleiben, heute die Emotionen Nabokovs oder Einsteins
          Theorie nachzuvollziehen? Wie kommt es, dass es beim 
        erwachsenen Leser hochentwickelte Mechanismen gibt, die perfekt an die
        zum Lesen erforderlichen Abläufe angepasst sind? Wie erwirbt unser
        Gehirn diese spezialisierten Schaltkreise, die es tatsächlich gibt?
        
        In acht Kapitel untergliedert der Autor sein Buch. Er beginnt mit der
        Frage, wie wir überhaupt lesen: von der ersten Verarbeitung der Schrift
        im Auge (im Zentrum der Retina), der anschließenden Wortzerlegung in
        viele tausend Teile und der erneuten schrittweisen Zusammensetzung durch
        die Neuronen sowie letztendlich der phonologischen und lexikalischen
        Verarbeitung. Das alles in atemberaubend kurzer Zeit. "In
          Sekundenbruchteilen und ohne bewusste Mühe löst unser Nervensystem ein
          Problem der visuellen Erkennung, das für die derzeitigen
          Computerprogramme unerreichbar bleibt: parallele Erkennung der
          verfügbaren Schriftzeichen, Auflösung von Doppeldeutigkeiten,
          schneller Zugriff auf eines von 50 000 möglichen Wörtern ..."
        
        In weiteren Kapiteln untersucht, analysiert und erläutert Dehaene die
        spezielle Region unseres Gehirns zur visuellen Erkennung der Wörter, die
        (mit wenigen Millimetern Abweichung) immer dasselbe Areal umfasst. Dazu
        begibt er sich in die mikroskopisch kleinen Regionen einzelner Neuronen.
        Der französische Wissenschafter beleuchtet wie sich das Gehirn
        verändert, wenn ein Kind Lesen lernt, er beschäftigt sich mit
        Legasthenie und der Symmetrieerkennung unseres Sehsystems. Zahlreiche,
        zum Teil farbige Abbildungen unterstützen das Verständnis des
        anspruchsvollen Themas.
        
        Erstaunlich sind gleichfalls Dahaenes Betrachtungen zur Erfindung der
        Schrift, die erkennen lassen, dass alle Schriften der Welt - so
        unterschiedlich sie auch aussehen mögen - viele Merkmale gemeinsam
        haben, "in denen sich die Beschränkungen unserer visuellen
          Schaltkreise widerspiegeln." Und noch viel bemerkenswerter mutet
        es an, dass sich in unserer Spezies als einziger unter den Primaten eine
        so reichhaltige kulturelle Dimension entwickelt hat. Letztendlich hat
        Stanislas Dehaene neben einer Fülle an Wissensvermittlung und
        interessanten Einblicken in unsere "Schaltzentrale" erreicht, dass uns "die
          kulturelle Variabilität der menschlichen Gattung" nicht mehr so
        ausgedehnt erscheint. "Möglicherweise ist der Eindruck von der
          unendlichen Vielfalt der Kulturen nichts weiter als eine Illusion -
          zurückzuführen auf unsere Unfähigkeit, uns andere kulturelle Formen
          vorzustellen als jene, deren Wahrnehmung unser
            Gehirn zulässt."
        
        Unsere Hirnrinde ist keinesfalls eine Tabula rasa oder eine
        Wachsmatrize, die den Abdruck aller kulturellen Erfindungen
        willkürlichster Art getreu verzeichnet. "Sie ist aber auch kein
          starres Organ, das dem Lesen im Verlauf der Evolution ein 'Modul'
          gewidmet hat. Sie ähnelt vielmehr einem Baukasten, mit dem das Kind
          sowohl das vom Hersteller vorgesehene Modell bauen kann, aber auch
          andere mehr oder weniger funktionale Maschinen." Entstanden ist
        ein überaus lehrreiches Buch auf allerhöchstem Niveau, das dennoch
        flüssig zu lesen und dessen Inhalt gut nachzuvollziehen ist.
        "Lektüre, die zugleich gefällt und nützt, ergötzt und belehrt, hat
          alles was man sich wünschen kann", wusste schon der große Leser
        und Humanist Jacques Amyot. Für Stanislas Dahaenes Buch kann dies ohne
        Einschränkungen bestätigt werden.
        
        "Ich möchte, dass Sie sich wundern; nicht allein über das, was Sie
          lesen, sondern über das Wunder, dass man das lesen kann."
        (Vladimir Nabokov)
(Heike Geilen; 11/2010)
Stanislas Dehaene: "Lesen.
          Die größte Erfindung der Menschheit und was dabei in unseren Köpfen
          passiert"
        (Originaltitel "Les Neurones de la Lecture")
        Aus dem Französischen von Helmut Reuter.
        Albrecht Knaus Verlag, 2010. 470 Seiten.
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Stanislas Dehaene, 1965
        geboren, Mathematiker und Psychologe, ist einer der weltweit führenden
        Kognitionswissenschaftler. 2005 wurde er zum Mitglied der "Académie des
        Sciences" gewählt und Professor am Collège de France, wo ein neuer
        Lehrstuhl für Experimentelle Wahrnehmungspsychologie eingerichtet wurde.
        Dort erforscht Dehaene die Grundlagen des Lesens, Schreibens und
        Rechnens.
        
        Weitere Buchtipps:
           
          Joachim Elias Zender: "Geliebte alte Bücher. Sammeln - pflegen -
          schätzen"
        Von alten Büchern geht etwas Magisches aus: Der Duft von Leder und
        Druckerschwärze, die Verheißung besonderer Entdeckungen in ihrem Inneren
        ziehen viele Menschen an. Gleichzeitig macht ihr Alter diese Schätze oft
        zu einem "Buch mit sieben Siegeln" für den modernen Menschen: Wie geht
        man mit dem kostbaren alten Material um? Ist dieses Buch, das vor mir
        liegt, selten oder gar wertvoll? Wo mag ein Buch gedruckt sein, das als
        Druckort "Argentoratum" angibt? Was bedeutet die Druckermarke, das
        Wasserzeichen, was sind Incipit und Kolophon? Der erfahrene Sammler
        Joachim Elias Zender nimmt den Leser mit in Antiquariate und
        Papiermühlen, zu berühmten Druckern und in Buchbindereien. Er malt das
        prachtvolle Panorama eines ganz besonderen Kulturguts und gibt zugleich
        übersichtliche Hilfestellung bei allen praktischen Problemen von
        Fälschung bis Ungeziefer,
        die Fachleuten und Laien beim Büchersammeln begegnen können.
        Zahlreiche Illustrationen aus seiner Sammlung, stimmungsvolle Fotos vom
        Leben mit Büchern und Anekdoten aus dem reichen Erfahrungsschatz des
        Sammlers machen das Buch zu einem Lesevergnügen. (Thorbecke)
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Norbert Loacker: "Leben
          Lesen Träumen. Essay"
        Ein Buch über das Lesen. Kein Lesetagebuch, sondern eine Spurensuche
        quer durch alle Bücher und das Lesen an sich. Norbert Loacker verlässt
        sich nicht einmal auf die verlässlichsten Lektüreerfahrungen, sondern
        hinterfragt jedes Lesen neu.
        Wenn es stimmt, dass alle Schriftsteller in erster Linie immer auch
        Lesende sind, so braucht das Bücherbord nun ein klein wenig mehr Raum.
        Denn Lesen führt zwangsläufig zum Schreiben, und Schreiben zum Träumen.
        Ein Buch vom Erzählen. (Limbus Verlag)
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Karin Fleischanderl: "Vom
          Verbot zum Verkauf. Aufsätze zur Literatur"
        Die Popularisierung und Trivialisierung aller Lebensbereiche schreitet
        unablässig voran, und es wäre vermessen zu glauben, dass nicht jeder
        Einzelne auf seine Weise - freiwillig oder auch nicht - dazu beitrüge.
        Vielleicht weniger eklatant als in anderen Bereichen vollzieht sich
        diese Entwicklung auch auf der Ebene der Literatur, wo - wie von der
        postmodernen Theorie gefordert - das Original durch die Simulation
        ersetzt werden soll. Leser wie Kritiker lassen sich von Artefakten
        blenden, die die etablierten Formen der Literatur wiederholen, ohne sie
        mit deren ursprünglicher Energie zu füllen.
        In ihren Aufsätzen untersucht Karin Fleischanderl Bedingungen und
        Machart der Fertigteilliteratur, von Marlen Haushofer über Marlene
        Streeruwitz bis hin zu Antonio Tabucchi. Sind deren Attitüden - sowie
        viele andere postmoderne Haltungen - bloß eleganter Unsinn, oder handelt
        es sich dabei um blanken Zynismus?
        Karin Fleischanderls Objekte der Kritik: Norbert
          Gstrein, 
          Marlen Haushofer, 
          Elfriede Jelinek, 
          Daniel Kehlmann, 
          Robert Menasse, 
          Marlene Streeruwitz, Antonio
          Tabucchi. (Sonderzahl Verlag)
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